Dieser Gletscher könnte bald wieder wachsen
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Im Oberengadin in der Schweiz testen Forscher derzeit ein System gegen die zunehmende Gletscherschmelze. Durch Schmelzwasser-Recycling soll am Berg neuer Schnee entstehen und die Folgen des Klimawandels eindämmen.
Dieter Kassel: Zu den direkten Folgen des Klimawandels, die nicht nur in irgendwelchen Prognosen stehen, sondern auch mitten in Europa schon zu beobachten sind, gehört das Abschmelzen der Gletscher – unter anderem in den Schweizer Alpen. Und dort hat man jetzt eine Technik entwickelt, mit der man dagegen konkret etwas tun will. Es geht um ein Projekt, das zurzeit in der Schweiz ausprobiert wird, der Leiter dieses Projektes ist Felix Keller, Glaziologe an der HFT Graubünden. Im Mittelpunkt dieses Projekts und dieser Technik steht der Schnee, der zu den Gletschern wieder hochgeschafft wird. Das überrascht Laien erst einmal. Was genau machen Sie da?
Felix Keller: Das Prinzip, an dem wir im Moment arbeiten, ist relativ simpel. Es geht darum, das Schmelzwasser, das im Sommer leider zurzeit reichlich anfällt, oben zu behalten. Wir werden nichts hinaufpumpen und dann in den kalten Wintermonaten wieder gefrieren lassen. Daher nutzen wir nun den Prozess des Schmelzwasser-Recyclings. Darin sehen wir die Möglichkeit, aus diesem Schmelzwasser ohne den Einsatz von elektrischer Energie Schnee herstellen und den Gletscher so zu 100 Prozent gegen die Schmelze zu schützen.
Schneeherstellung ohne elektrische Energie
Kassel: Wie können Sie das komplett ohne den Einsatz von elektrischer Energie machen?
Keller: Das Prinzip ist eigentlich bereits patentiert unter dem Namen Nessy Zero E. Nessy ist die Abkürzung für neues, energieeffizientes Schneisystem, und Zero E für ohne elektrische Energie. Das funktioniert ausschließlich mit Wasserdruck. Wir brauchen eine Wassersäule von 200 Meter und dann können wir das vollständig ohne elektrische Energie machen.
Kassel: Das kann ich mir technisch vorstellen, aber vielleicht noch mal von Anfang an. Ich stelle mir vor, dass Sommer ist und der Gletscher schmilzt. Das passiert grundsätzlich aufgrund des Klimawandels viel zu intensiv. Wie behalten Sie da das Schmelzwasser oben? Ist das eine Art Stausee, der entsteht?
Keller: Ein Teil des glaziologischen Prozessrepertoires besteht darin, dass der Gletscher sich selbst Seen herstellt: Das ist die sogenannte glaziale Tiefenerosion. Solche Schmelzwasserseen, die schon sehr weit oben entstehen können, nutzen wir. Es kann sein, dass wir sie vielleicht mit kleinen Staumauern noch unterstützen müssen, weil wir doch relativ viel Wasser sehr weit oben brauchen und nichts pumpen wollen.
Kassel: Damit Sie diese Energie nutzen können – ohne elektrische Energie zu benötigen – muss doch das Wasser, das Sie im Winter auf den Gletscher als Schnee herabfallen lassen, höher sein als der Gletscher selbst?
Keller: Der Morteratschgletscher hat eine Höhendifferenz von 2.100 Meter bis 4.000 Meter, also 1.900 Meter. Wir sammeln das Wasser etwa auf 2.700 Meter und werden es dann in Form von Schnee auf etwa 2.450 Meter aufbringen, also rund 200 Höhenmeter weiter unten.
30.000 Tonnen Schnee werden benötigt
Kassel: Das Pilotprojekt hat begonnen, aber die eigentliche Phase des Herabschneienlassens werden Sie in diesem Winter auf dem Gletscher das erste Mal tun. Wo sehen Sie eventuelle Probleme? Wo sagen vielleicht auch die Technikkollegen in dem Projekt, das könnte vielleicht schiefgehen?
Keller: Die Probleme bestehen ganz sicher in den großen Zahlen. Es sind riesige Mengen an Schnee, die wir herstellen müssen. Wir benötigen rund 30.000 Tonnen Schnee pro Tag und dazu benötigen wir eine neue Technologie, die das ohne den Einsatz von elektrischer Energie bewältigen kann. Dazu kommt eine seilbasierte Technik. Wir sind jetzt in einem Innovationsförderungsprojekt an der Entwicklung eines Schneiseils, welches pro Tag 5.000 Tonnen Schnee produzieren kann auf einer Spannweite von einem Kilometer, also würden wir insgesamt sechs oder sieben solcher Seile brauchen.
Kassel: Sieht das Seilsystem in etwa so aus wie eine Seilbahn, wo anstelle von Skifahrern Schneeklumpen sind?
Keller: Ja, das Bild, das ist eigentlich ziemlich gut. Es ist wie eine Seilbahn, ohne dass eine Bahn fährt – respektive nur eine ganz kleine Wartungsseilbahn. Und anstelle eines Seilwagens sind eben eine Wasserleitung und eine Luftleitung aufgehängt und die Schneidüsen sind im Abstand von etwa 20 bis 30 Meter direkt an der Wasserleitung aufgehängt.
Nur Bekämpfung von Symptomen
Kassel: Wenn wir davon ausgehen, dass das Pilotprojekt so funktioniert, wie Sie und Ihre Kollegen sich das vorstellen, in welchem Umfang gleicht man damit quasi die Folgen des Klimawandels aus? Idealerweise wäre dann ein Gletscher wieder in dem gleichen Zustand und es gäbe das gleiche Verhältnis von Schmelzen und Frieren im Winter wie vor fünfzig oder sechzig Jahren?
Keller: Nicht einmal diesen idealen Zustand werden wir erreichen. Es geht wirklich darum, dass wir dort den Schmelzprozess abbremsen, wo Menschen, das Gletscherwasser zu ihrer Existenz brauchen. Und das würde nicht beliebig lange dauern. Das ist eigentlich eine Abbremsung, die eine etwa rund fünfzig Jahre lange Verschnaufpause für die betroffenen Menschen ist. In diesem Sinne kann man ganz sicher sagen, es ist eine reine Symptombekämpfung, wie wenn ein Kind 40 Grad Fieber hat. Dann kann man auch nichts tun und wartet, bis es von selber wieder weggeht. Es geht um die Existenz von 200 Millionen Menschen.
Kassel: Die sind vom Gletscherwasser abhängig. Ist es Quatsch, wenn jetzt jemand behauptet, das sei doch der Beweis, wie wir mit moderner Technik mit den Folgen des Klimawandels umgehen können und wenn es funktioniert, wir zumindest in Bezug auf Gletscher, die Erderwärmung gar nicht mehr reduzieren müssen? Können Sie wirklich nur das Schlimmste abfedern?
Keller: Das würde ich auf keinen Fall unterstützen. Einerseits ist es – und das kann man nicht schönreden – ein massiver technischer Eingriff und andererseits kostet es auch relativ viel. Es macht uns vielleicht eher bewusst, wie teuer uns eigentlich die Folgen des Klimawandels zu stehen kommen, und dass es sich eigentlich mehr lohnen würde, in die Ursachen des Klimawandels zu investieren.
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