Klimawandel und Baumforschung

Ein Sommer im Wald

29:04 Minuten
Blick in den Buchenwald auf Vilm
Der Wald auf Vilm, einer der schönsten im Ostseeraum überhaupt, findet Tobias Scharnweber. © Philipp Lemmerich
Von Philipp Lemmerich |
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Er rechnet nicht in Jahren, sondern in Jahrhunderten: Wie kann ein Baumforscher helfen, dem Klimawandel zu begegnen? Auf drei Exkursionen erzählt Tobias Scharnweber vom Wald – und welche Erkenntnisse die Dendroökolgie bringt.
Sie ist wieder da, die Sorge um den Wald. Nach zwei extrem trockenen Sommern 2018 und 2019 ist es um viele deutsche Wälder nicht gut bestellt. Abgestorbene Landstriche im Harz und Nordrhein-Westfalen, Waldbrände in Brandenburg, selbst Buchenwälder in Thüringen und Mischwälder in Hessen sind betroffen.
"An manchen Stellen, auch in Deutschland, kann man froh sein, wenn man auch in Zukunft noch wirklich dichte vitale Wälder überhaupt haben kann", sagt Tobias Scharnweber. "Dann muss man sich vielleicht gar nicht so viel Gedanken machen, wie man diesen Wald noch nutzen kann oder welche Baumarten man da für eine forstwirtschaftliche Nutzung überhaupt noch pflanzen kann. Da kann man tatsächlich froh sein, wenn es überhaupt welche schaffen."
Tobias Scharnweber ist Landschaftsökologe an der Universität Greifswald und beschäftigt sich mit Baumwachstum und Klimarekonstruktion. Über mehrere Monate weg habe ich ihn immer wieder getroffen – in Wäldern, an einem See, im Labor – und ihm die Frage gestellt: Wie kann es weitergehen mit dem Wald?

Erste Exkursion. Juni 2020.

"Das Wetter: in der Südhälfte wolkig mit Regen, sonst heiter bis wolkig und meist trocken. Nur im Westen am Nachmittag einzelne Schauer. Höchsttemperaturen 13 bis 23 Grad", heißt es im Wetterbericht.
Der Dürremonitor des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung Leipzig zeigt Trockenheit für fast das gesamte Bundesgebiet an. In tieferen Bodenschichten zeigt sich in einigen Regionen vor allem im Osten und Süden des Landes eine "außergewöhnliche Dürre" – die höchste Dürrewarnstufe.
Das Naturschutzgebiet Eldena, nur wenige Kilometer von Greifswald entfernt, im Nordosten Deutschlands. 300 Hektar oder drei Millionen Quadratmeter Wald besitzt die Universität Greifswald hier seit den 1960er-Jahren ist er geschützt. Im April und Mai 2020 hat es hier noch weniger geregnet als im Rest von Deutschland. Der Frühling war einer der trockensten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – und das nach zwei extrem trockenen Sommern 2018 und 2019.

"Den meisten Bäumen geht es erstaunlich gut"

Autor: "Heute regnet es endlich einmal, überall tropft es von den Blättern. Die Bäume werden das Wasser bitternötig haben. Ich stehe hier mit Tobias Scharnweber, Landschaftsökologe an der Uni Greifswald. Wie ist denn Ihr erster Eindruck hier vom Wald. Wie stark sind die Folgen der letzten beiden Trockensommer zu sehen?"
Tobias Scharnweber: "Ich staune, das hätte ich so gar nicht erwartet nach diesen beiden trockenen Sommern, wie vital der Wald wirkt dieses Jahr. In den Kronen ist hier eigentlich wenig zu sehen, also wenig Verlichtung. Den meisten Bäumen geht es erstaunlich gut, aber das liegt in diesem Fall hier eben auch am Standort. Hier sind sehr lehmige Böden, die können das Wasser gut speichern, die haben Stauwasseranschluss.
Autor: "Es ist also nicht so richtig aussagekräftig, wenn man über Trockenheit sprechen möchte?"
Tobias Scharnweber: "Doch. Selbst hier, selbst auf diesen Standorten, das ist ja das Erstaunliche, haben wir im letzten Jahr 2019, diesem zweiten Trockenjahr eigentlich die dramatischsten Wachstumseinbrüche der letzten 100 Jahre, das kann man so sagen. Wenn man sich den Jahrring anschaut von 2019, bei den Buchen, dann ist es der kleinste in den letzten hundert Jahren."
Tobias Scharnweber steht neben einem alten Baum.
Der Dendroökologe Tobias Scharnweber interessiert sich besonders für sehr alte Bäume.© Philipp Lemmerich
Den Sommer 2018 hatten die meisten Bäume noch gut überstanden. Dank eines nassen Winters waren die Reserven aufgefüllt. Doch als es im Winter 2018/19 kaum regnete und dann der nächste Rekordsommer kam, brach das Baumwachstum ein. Seitdem ist das "Waldsterben 2.0" zum geflügelten Wort geworden.
Aber Wald ist nicht gleich Wald. Zum Beispiel haben Monokulturen viel mehr unter der Trockenheit der letzten beiden Jahre gelitten als Mischwälder. Nadelbäume sind tendenziell stärker betroffen als Laubbäume. Und natürlich stellt sich die Frage, wie viel Holzeinschlag das Ökosystem Wald vertragen kann.

Schwerpunkt Jahrringforschung

Autor: "Unser erster Stopp hier im Naturwald von Eldena ist eine alte, knorrige Eiche. Was machen wir jetzt hier?"
Tobias Scharnweber: "Wir haben diesen Bestand hier schon vor einigen Jahren mal untersucht, die Jahrringe uns angeschaut. Die ältesten Bäume sind hier so knapp 300 Jahre alt. Also wir können für die letzten 300 Jahre sagen, wie die Bäume gewachsen sind. Was uns aber fehlt, sind die letzten drei, vier Jahre. Also die extremen Trockenjahre. Darum nehmen wir von einigen Bäumen hier noch mal einen neuen Bohrkern, um zu dieser 300-jährigen Chronologie, die wir jetzt schon haben, die letzten aktuellen Jahre hinzuzufügen."
Tobias Scharnweber blickt nicht nur auf den Wald der Gegenwart. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Dendroökologie, also die Jahrringforschung an Bäumen. Er blickt Hunderte, manchmal sogar Tausende Jahre zurück und rekonstruiert die Geschichte von Bäumen und Wäldern. So kann er Aussagen treffen darüber, wie sich das Waldklima in der Vergangenheit verändert hat – und wie es sich vermutlich entwickeln wird.
Tobias Scharnweber holt einen sogenannten Zuwachsbohrer aus seiner Tasche. Ein langer Stahlbohrer, der innen hohl ist. Mit einem langen, T-förmigen Griff dreht er ihn in den Baum - von der Borke bis zum Kern einen guten halben Meter.
"Jetzt kommt der spannende Moment", sagt er.
Autor: "Genau, was ist jetzt der nächste Schritt?"
Tobias Scharnweber: "Jetzt ist der Bohrer im Baum, 60 Zentimeter lang, steckt hoffentlich bis zur Mitte, die trifft man natürlich nicht immer. Jetzt wird dieser Löffel oder Extraktor hier reingesteckt. Es geht in dem Fall ganz leicht. Eine halbe Umdrehung zurückgedreht. Dann knackt dieser Bohrkern vorne ab. Dann kann man ihn hier rausziehen wie ein chinesisches Essstäbchen. Bei dieser Eiche kann man tatsächlich auch schon mit bloßem Auge die Jahrringe erkennen. Man riecht es. Es riecht so nach Gerbsäure. Hat so einen ganz speziellen Geruch, Eichenholz. Was man schön sieht, ist das Kernholz, was bis hier geht, dieser dunkle Bereich. Und dann dieser ganz dünne, zwei Zentimeter oder so, Splintholzbereich."

Nur ein Rindenbereich leitet das Wasser

Autor: "Was heißt Splintholz?"
Tobias Scharnweber: "Splintholz ist eigentlich das lebende Holz. Dieses Kernholz ist tot. Da passiert eigentlich gar nichts mehr. Bei Eichen ist das besonders stark ausgeprägt, diese Segregierung eigentlich. Wasser leiten und wirklich leben bei einer Eiche, tun nur die letzten zwei, drei, vier Jahrringe. 80, 90 Prozent der Wasserleitung dieses riesigen Baumes passiert über diesen schmalen millimeterbreiten Bereich."
Eine Bohrung ist eine empfindliche Verletzung für den Baum. Es dauert oft Jahre, bis das Loch im Stamm verheilt ist. Deshalb hat Scharnweber an den Nachbarbäumen ein sogenanntes Dendrometer angebracht: ein kleiner Taststift, der minütlich und mikrometergenau den Umfang des Stammes misst. Daneben stecken noch vier weitere Nadeln im Baum, ein Saftflussmesser. Er zeigt an, wie viel Wasser ein Baum transpiriert – und wann er in Trockenstress gerät.
Ein Saftflussmesser ist an einem Baumstamm angebracht.
Saftflussmessung an einem Stamm: Wann gerät ein Baum in Stress?© Philipp Lemmerich
Autor: "So, jetzt geht es hier einen Graben hinab"
Tobias Scharnweber: "Und wir kommen trockenen Fußes hindurch, was nicht immer so ist."
Nur wenige Hundert Meter entfernt zeigt sich der Wald von einer ganz anderen Seite: Es liegt kein Totholz herum, alles wirkt sehr aufgeräumt. Auch dieses Waldstück ist Teil des Naturschutzgebietes Eldena. Der Unterschied: Hier wird Forstwirtschaft betrieben.

Bäume fördern sich gegenseitig

Scharnweber hat auch hier Bäume verkabelt und will herausfinden, ob Wirtschaftswälder stärker unter Trockenheit leiden. Bereits jetzt zeichnet sich ein Unterschied ab: je weniger menschliche Eingriffe, desto resistenter der Wald.
Tobias Scharnweber: "Das ist eine Entwicklung in der Waldökologie, die sich jetzt abzeichnet. Von diesem Konkurrenzdenken - also die Bäume sind in Konkurrenz im Wald, der eine verdrängt den anderen - kommt man immer mehr zu einem systemischeren Denken, wo man sieht, dass sich Baumarten auch untereinander fördern. Das man sich eigentlich gar nicht so sehr als Individuen von Bäumen nebeneinander her vorstellen muss, sondern als einen unterirdischen Superorganismus, und die Stämme ragen so wie die Finger einer Hand aus dem Boden. Also unterirdisch ist da viel mehr gegenseitige Förderung und Verbund, Informationsaustausch, Nährstoffaustausch, Wasseraustausch vorhanden, als man bisher angenommen hat."
Autor: "Jetzt ist ja die Erkenntnis, dass es sich beim Wald um ein eigenes Ökosystem handelt gar nicht so besonders. Ist es so, dass da einfach wissenschaftliche Erkenntnisse gefehlt haben, damit man diese These auch untermauern konnte? Oder ist das auch so etwas wie ein Paradigmenwechsel, zu sagen: Wir schauen uns nicht Bäume als Individuen an, als einzelne Pflanzen, sondern wir weiten den Blick und schauen auch auf das größere Ganze?"
Tobias Scharnweber: "Ja, in gewisser Weise ist das ein Paradigmenwechsel, weil viele, sehr viel Forschung, die im Wald betrieben wurde, war sehr, würde ich mal sagen, ertragsorientiert. Da ging es darum: Welche Baumart wächst auf welchen Standorten am besten? Wann ist der beste Zeitpunkt, sie zu fällen? Und das ist natürlich auch ein Unterschied, ob man jetzt viele Reihen Fichten oder Kiefern pflanzt und dann diesen Altersklassenwald in seinem Ertragsvolumen studiert, oder wenn man in so einen natürlich gewachsenen Wald geht und sich die Prozesse anschaut."

Zweite Exkursion. August 2020.

"Der Wetterbericht, die Lage: Ein kräftiges Hoch über Nordeuropa ist in den kommenden Tagen wetterbestimmend. Dabei wird heiße Luft nach Deutschland geführt. Die Vorhersage: sonnig im Tagesverlauf, lockere Wolken in der Mitte und im Osten, örtliche Hitzegewitter. Höchstwerte bei 32 bis 36, im Westen bis 38 Grad", lautet diesmal die Voraussage.
Laut Dürremonitor des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung Leipzig hat sich die Situation im Oberboden bis 25 Zentimeter seit Juni etwas entspannt. Im Gesamtboden bis 1,8 Meter Tiefe ist die Situation nach wie vor dramatisch. Besonders im Osten und Südwesten des Landes zeigt der Index eine "außergewöhnliche Dürre" an.
Tobias Scharnweber steht am Wesensee bei Brodowin auf einem Steg.
Der Wesensee bei Brodowin ist für Tobias Scharnweber ein besonderes Ziel.© Philipp Lemmerich
Heute gehen wir zwar nicht in den Wald, aber wir werden trotzdem viel über den Wald erfahren. Wir haben uns heute am Wesensee bei Brodowin in Brandenburg getroffen. Seen gibt es in der Region viele, aber auf den Wesensee wurden Tobias Scharnweber und seine Kollegen vor ein paar Jahren aufmerksam gemacht. Der See hat nämlich so viel Wasser verloren, dass der Pegel immer weiter gesunken ist – bis alte Eichenstümpfe aus dem Wasser ragten wie ein ertrunkener Wald. Scharnweber hat die Stämme analysiert und festgestellt, dass sie etwa 500 Jahre alt sind.

Ein Stamm wie ein Lottogewinn

Autor: "Für einen Jahrringforscher, das hat mir Tobias Scharnweber vorher verraten, ist ein solcher Stamm ein richtiger Lottogewinn. Altes Holz gibt es zwar oft, zum Beispiel in Kirchen, aber da weiß man nie genau, wo es herkommt. Und hier wurzeln die Stämme noch im Wasser. Wenn wir sie dann untersuchen, können wir etwas sagen über das Klima genau an diesem Ort vor 500 Jahren. Deswegen wollen wir heute schauen, ob wir noch mehr von diesen Stämmen finden. Dafür müssen wir aber erst mal ans Ufer kommen, hier ist alles zugewuchert."
Tobias Scharnweber: "Muss mal schauen, wo wir hier durchkommen. Oh. Ein Rebhuhn. Jetzt müssten wir hier irgendwo eigentlich rüberkommen. Kann nicht mehr weit sein. Gibt es nicht. Es regnet wirklich. Ich habe auch nichts mit, irgendwie eine Regenjacke oder irgendwas, damit habe ich nicht gerechnet."
Warum der See Wasser verliert, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Klar ist: Vor mehr als 500 Jahren, als die Bäume hier wuchsen, war der See nahezu ausgetrocknet.
"Es gibt dieses sogenannte mittelalterliche Klimaoptimum, das so von 1000 bis 1200, 1300 stattfand mit wahrscheinlich sehr warmen, sehr trockenen Sommern, vergleichbar zu unseren heute", erklärt Tobias Scharnweber.
In der Vergangenheit gab es Perioden, in denen es ähnlich warm gewesen sein könnte wie heute – solche Aussagen bieten einigen Sprengstoff für die ohnehin schon überhitzte Klimadebatte. Schnell werden Forschungsergebnisse aus dem Kontext gerissen und instrumentalisiert.

Plötzlich Post von Klimawandelskeptikern

So erging es auch Tobias Scharnweber nach einer Publikation im vergangenen Jahr: Plötzlich hatte er Post von Leugnern des Klimawandels.
"Diese Veröffentlichung basierte auf Buchenjahrringdaten", erklärt er, "wo wir gezeigt haben, dass dieses mittelalterliche Klima ähnlich trocken war, hier in unseren Breiten zumindest in Nordostdeutschland, wie wir es heutzutage erleben. Hat genau solche Leute auf den Plan gerufen, so Klimaskeptiker, die mir E-Mails geschrieben haben: Mensch, Herr Scharnweber, toll, dass man so was heute noch sagen kann. Und sehen Sie, eigentlich hat das Klima schon immer geschwankt, und es hat gar nichts mit dem Menschen zu tun. Ich wurde tatsächlich auch eingeladen zu dubiosen Konferenzen. Ich habe auf ein paar dieser noch ein bisschen sachlichen Mails geantwortet, aber irgendwann gar nicht mehr darauf reagiert."
Tatsächlich geht es Scharnweber um das genaue Gegenteil: nämlich den menschengemachten Klimawandel von heute von der natürlichen Veränderbarkeit des Klimas zu trennen. Nur mit solchen Daten können Klimaforscher abschätzen, was uns in Zukunft bevorsteht.
"Wenn wir wissen, wie Bäume damals gewachsen sind, wie Wälder damals aussahen, wie ein Wald mit solchen relativ schnellen Veränderungen oder doch solchen relativ starken Veränderungen in den Klimabedingungen klarkommen kann oder wie er sich anpassen kann.", erklärt Tobias Scharnweber.

Folgen der Kleinen Eiszeit

Am Wesensee in Brandenburg kam ab dem 15. Jahrhundert das Wasser wieder zurück. Die Winter wurden kälter, die Sommer feuchter und kühler – die Kleine Eiszeit. Die Eichen ertranken und ihre Stämme wurden unter der Wasseroberfläche luftdicht abgeschlossen. So sind sie erhalten geblieben.
Ein alter Eichenstumpf auf einer Wiese
Das Alter der Eichenstümpfe wurde auf ungefähr 500 Jahre datiert.© Philipp Lemmerich
Autor: "Da vorne ist eine kleine Insel mitten im See, und wir meinen, dass da Baumstümpfe zu sehen sind. Von hier aus sieht es so aus, als könnte man über eine kleine Landzunge dorthin laufen, aber ich fürchte, das ist gar nicht so einfach."
Tobias Scharnweber: "Oh, richtige Löcher. Hilfe, bleib bloß da! Ich komme schon gar nicht mehr raus. Bleib lieber da! Bevor wir beide wirklich feststecken. Ich muss erstmal langsam ein Bein rausziehen. Jetzt ist meine Hose schwarz. Genau, wir lassen es lieber. Stell dir vor, wir stecken hier beide fest."
Autor: "Zur Insel haben wir es nicht geschafft, das war zu matschig, aber jetzt hatten wir hier am Ufer doch noch Glück."
Tobias Scharnweber: "Hier ist ein Stück vom Stamm richtig. Ja, ich glaube, ich hole mal meine Säge. Das ist hier unten noch schön erhalten. Schön. Hat es sich doch noch gelohnt. Das geht viel leichter zu sägen als das Getrocknete. Toll. Ein bisschen gleitet die Säge jetzt hier wie durch Butter."

Dritte Exkursion. September 2020.

"Der Wetterbericht, die Lage: Das Frontensystem eines Islandtiefs greift auf den Norden und die Mitte über, im Süden bleibt Hochdruckeinflusswetter bestimmend. Die Vorhersage: Im Norden und Westen bewölkt mit Regen bei 17 bis 21 Grad, im Osten und Süden 21 bis 24 Grad und sonnig", heißt es in den Nachrichten.
Der aktuelle "Dürremonitor" des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung Leipzig zeigt eine fast flächendeckende Austrocknung des Bodens in tieferen Schichten. Die Dürre hält bereits die dritte Vegetationsperiode in Folge an.
Heute steht meine dritte und letzte Exkursion mit Tobias Scharnweber an. Aber bevor es losgeht, schaue ich einmal im Institut für Botanik und Landschaftsökologie in Greifswald vorbei. Ich will nämlich wissen, was aus unseren Proben von den ersten beiden Exkursionen geworden ist.
Das Institut hat eine eigene Werkstatt mit verschiedenen Schleifgeräten und Präzisionssägen. Tobias Scharnweber hält einen Bohrkern in der Hand – ein dünner Stab, 30 Zentimeter lang – und führt ihn langsam in eine der Maschinen ein.

"Jetzt sieht man hier wunderbar die Jahrringe"

"Schöne, glatte Oberfläche. Also mit dem Zylinderschleifer kann man erst mal eine plane, ebene Oberfläche schaffen. Die braucht man auch, wenn man den Kern später scannt, damit er wirklich auf dem Scannerglas gut aufliegt. Und die Oberfläche polieren wir dann entweder per Hand oder mit einem Schwingschleifer noch mal nach", erklärt er.
"Das ist die Eiche, die wir bei unserem ersten Besuch hier in Eldena bei Greifswald gebohrt haben. Und die habe ich jetzt aufgeleimt, geschliffen und poliert, mit immer feinerem Sandpapier. Und jetzt sieht man hier wunderbar die Jahrringe. Man sieht, wie das bei Eichen so typisch ist, dass großvolumige Frühholz und danach dieses viel dichtere Spätholz. Das zusammen ist immer ein Jahrring. Und die habe ich gescannt, diesen Bohrkern und dann an diesem Bild, was hier auf dem Computer zu sehen ist, die Jahrringe vermessen. Und sie ist älter, als wir damals vermutet hatten. Ich glaube, wir haben so um die 200 geschätzt, und sie ist doch über 250. Der erste Ring, der hier auftaucht, das ist das Jahr 1746. Deutlich über 250 Jahre alt."
Ein Koordinatensystem ist am Bildschirm zu sehen, darin eine Kurve mit vielen Ausschlägen nach oben und unten. Auf der x-Achse die Jahreszahlen, auf der y-Achse die Breite der Jahrringe. Schon auf den ersten Blick sind klare Ausschläge nach unten zu erkennen: die Trockenjahre. 1976 zum Beispiel. Oder eben 2019. In beiden Jahren ist der Baum kaum gewachsen.
Man sieht aber auch: einen Sprung nach oben ab dem Jahr 1915 und noch einmal in den 80er-Jahren. Vermutlich wurden in dieser Zeit Nachbarbäume gefällt. Für den Baum, der stehen bleibt, bedeutet das mehr Licht, mehr Nährstoffe, mehr Wachstum.
Um verlässliche Aussagen über das Klima zu treffen, muss Tobias Scharnweber solche singulären Ereignisse herausrechnen. Das ist enorm wichtig für Klimaforschung: Weil es Wetterstationen flächendeckend erst seit etwa 150 Jahren gibt, braucht sie indirekte Klimadaten – sogenannte Proxys.
"Um wirklich mal eine etwas längere Perspektive in die Vergangenheit zu bekommen, braucht man Proxys, und die Jahrringdaten sind davon eigentlich einer der besten, weil sie wirklich jährlich auflösen", erläutert er. "Mit diesen Jahrringdaten hat man dann eben die Möglichkeit, seinen Horizont um Hunderte, Tausende Jahre zu erweitern. Neben den Jahrringen gibt es noch Eisbohrkerne oder Sedimente aus Seen, also sogenannte vavierte Sedimente, die auch als Klima-Proxy dienen können, aber die Jahrringe sind eigentlich die, die mit dieser annuellen Auflösung das am besten können."

Ein Wald, der wohl nie beförstert wurde

Autor: "Wir sind jetzt mittlerweile in Lauterbach auf Rügen auf eine kleine Fähre gestiegen und fahren auf die Insel Vilm. Tobias Scharnweber hat mir dort einen wunderschönen und auch ziemlich alten Laubwald versprochen, wo die Uni Greifswald seit Jahren Messdaten sammelt. Was ist denn so besonders an diesem Wald?"
Blick durch das Fenster der Fähre zur Insel Vilm
Mit der Fähre unterwegs zu einem besonderen Wald© Philipp Lemmerich
Tobias Scharnweber: "Der Wald ist für meine Begriffe einer der schönsten im Ostseeraum überhaupt, weil er diese lange Kontinuität hat. Er wurde bis auf ein Ereignis im 15. Jahrhundert, was dokumentiert ist, wahrscheinlich nie genutzt, nie beförstert, hat nie eine Axt gesehen und konnte sich entwickeln, wie es einem Naturwald schon sehr nahekommt. Es gab immer eine gewisse Besiedelung und ein einzelnes Gehöft auf der Insel, und da sind sicherlich auch mal ein paar Kühe durch den Wald gelaufen. Aber abgesehen davon hat man hier sozusagen den Referenzzustand eines Waldes, wie er in weiten Teilen Norddeutschlands oder Europas verbreitet wäre. Und das findet man in der Form eigentlich nirgends."
Autor: "Vilm, das muss man vielleicht noch dazu sagen, liegt nur ein paar Hundert Meter vor der Südostküste von Rügen. Touristen kommen trotzdem nur wenige, denn Vilm ist Naturschutzgebiet. Für geführte Touren muss man sich anmelden und Teile der Insel sind komplett gesperrt. Es ist also schon etwas Besonderes, dass wir hier heute durch den Wald stapfen können. So, jetzt legen wir auch schon gleich an."
Ohne den Menschen wäre Deutschland zu 95 Prozent von Wald bedeckt. Doch seit vielen Tausend Jahren werden Wälder gerodet, Moore trockengelegt, Ackerbau betrieben, Städte und Dörfer gebaut. Nahezu sämtliche Landstriche sind Kulturlandschaften, von Menschenhand geprägt.
Dass ein Wald für mehrere Hundert Jahre sich selbst überlassen wird, gibt es sehr selten. Umso wichtiger sind solche Wälder für die Forschung: Erst hier lässt sich richtig verstehen, wie Ökosysteme ohne ständige Eingriffe des Menschen funktionieren.

Naturkreislauf von Werden und Vergehen

Dass Vilm in den letzten 500 Jahren nahezu unberührt blieb, ist vielen Zufällen zu verdanken. Zum Beispiel überzeugte Anfang des 19. Jahrhunderts Fürst Malte von Putbus die französischen Besatzer unter Napoleon, den Wald entgegen anderslautender Pläne stehen zu lassen. Zu DDR-Zeiten wurde hier ein Urlaubsdomizil für den Ministerrat gebaut, der Bevölkerung war ein Besuch der Insel untersagt.
Tobias Scharnweber: "Jetzt tauchen wir ein! Toll, oder? Enorm viel Totholz liegt hier auch herum. Da ist ein Reh, das gerade wegläuft. Teilweise auch viel von stehendem Totholz, was immer Mangelware ist in den Wäldern. Und das bilden vor allem Eichen. Hier ist eine. Na ja, ein paar grüne Blätter hat sie noch, aber eigentlich schon überhaupt gar keine Krone mehr."
Autor: "Schon nach wenigen Metern sind wir mittendrin im dichten Wald. Riesige Buchen, die sich zum Himmel strecken, das Licht bricht sich in ihren Kronen."
Tobias Scharnweber: "Ja, ja, das sind unglaubliche Bäume. Da sind sicherlich 30, 40 Festmeter Holz in einem einzigen Baum gebunden. Gerade alte Bäume können vergleichsweise viel Holzzuwachs bilden beziehungsweise viel Kohlenstoff aus der Luft ziehen, weil sie eben so eine effektive ausgebreitete große Krone haben. Es sind zwar keine sehr großen Jahrringe mehr, weil er so dick ist, aber über so einen ganzen stattlichen Zylinder gepackt, ist das eine enorme Menge."
Autor: "Wie groß ist der in etwa?"
Tobias Scharnweber: "Die Höhe? Die höchsten, die wir gemessen haben, waren 36 Meter. Und das kann schon einer in die Richtung sein. Also über 30 Meter sind die Buchen hier teilweise.
Blick in eine riesige Baumkrone im Buchenwald auf Vilm
"Das sind unglaubliche Bäume" - Buchenwald auf Vilm.© Philipp Lemmerich
Man kann wirklich schön erfahren, diesen Kreislauf der Natur von Werden und Vergehen. Man hat diese alten, mehr oder minder stark zersetzten Totholzstämme, die hier auf dem Boden liegen, wo die Pilze darauf wachsen. Gerade an solchen Stellen keimen dann eben auch die Ahorne und Buchen, weil da feuchtere, geschütztere Ecken sind. Und da wächst dann wieder die neue Generation. Und das ist nie größerflächig als ein, zwei Baumkronen. Auf kleinster Fläche hat man hier ein Mosaik aus allen möglichen Altersklassen."
Wir sind ein bisschen schräg gegangen. Man verliert schnell die Orientierung. Wir sind hier in so einem kleinen Erlensumpf."
Der natürliche Zustand des Waldes auf Vilm hat eine weitere Besonderheit hervorgebracht: Über die Jahrhunderte hat sich durch abgestorbene Blätter und Stämme und unverdichtete Böden eine bis zu 80 Zentimeter dicke Humusschicht gebildet.
Auf der höchsten Erhebung der Insel, 36 Meter über Normalnull, ist von Wissenschaftlern ein gut ein Meter tiefes Loch ausgehoben, in dem sich gut die Struktur des Bodens erkennen lässt. Ganz unten: das Ausgangssubstrat, Sand, der in der Eiszeit hier hochgehoben wurde. Darüber, Humus, fast schwarz, schwer, feucht.
Was bedeutet das für andere Wälder?
"Das macht auf jeden Fall überall Sinn, egal, ob wir uns auf einer Insel befinden oder ganz woanders, genau diese Dinge zu berücksichtigen", erklärt Tobias Scharnweber. "Möglichst viel Totholz im Wald zu lassen, und wenn es ein Wirtschaftswald ist, nicht noch die letzte Krone zu zerschreddern und ins Heizwerk zu fahren. Man beraubt dem Wald seiner Nährstoffe und nicht nur seiner Nährstoffe, sondern eben auch seines Humus. Und Humus hat eben nicht nur, was die Ernährung betrifft, eine wichtige Rolle. Solche stark humosen Böden halten auch deutlich besser das Wasser in solchen Trockenjahren.
Am Ende unseres Inselbesuchs gehen wir noch mal den kleinen Rundweg an der Küste entlang. Ein Spätsommernachmittag, auf dem Wasser sind Segelboote. Am Ufer geht der dichte Wald in niedrige Büsche über, Wildpflaumen und Schlehen, viele kleine Eichen. Vielleicht steht dann in ein paar Hundert Jahren hier ein ähnlich dichter Wald wie vorhin im Zentrum der Insel."

Ein Fazit nach drei Ausflügen

Autor: "Wir sitzen hier im Hafen von Lauterbach und blicken auf die Insel Vilm. Was ist denn Ihr Resümee, Ihr Fazit aus diesen Exkursionen, die wir zusammen gemacht haben?"
Tobias Scharnweber: "Ganz plakativ kann man vielleicht sagen: Wald muss dicht, dieses Waldbinnenklima muss möglichst bewahrt werden. Das Mikroklima, die deutlich kühleren Temperaturen, die höhere Luftfeuchte in einem geschlossenen Wald muss man auch in Wirtschaftswäldern zukünftig versuchen herzustellen, um sie so besser bei solchen Hitze- und Trockenperioden puffern zu können.
Zukünftig muss es einfach viel wichtiger sein, Wald zu erhalten und die Ökosystemdienstleistungen, die ein Wald erbringt, wie Kühlung, Grundwasserneubildung, Kohlenstofffestlegung, solche Sachen, die ein Wald einfach für uns macht, Sauerstoffbildung, die aber bisher nicht honoriert werden, dass so etwas zunehmend wichtiger wird und auch von der Gesellschaft auf die eine oder andere Weise honoriert wird. Und dass es nicht im ersten Maße bei Wald vor allem um Holzproduktion geht. Das wünsche ich mir."

Autor: Philipp Lemmerich
Es sprechen: Bettina Kurth, Timo Weisschnur und der Autor
Ton: Christiane Neumann
Regie: Clarisse Cossais
Redaktion: Martin Hartwig

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