Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Publizist, Schriftsteller und ehemaliger Chefredakteur des "Philosophie Magazins". Nach seinem Bestseller "Zeit der Zauberer. Das große Jahrzehnt der Philosophie. 1919-1929", erschien 2020 von ihm "Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten. 1933-43".
Für eine Erotik des Wetters
05:00 Minuten
Nicht erst seit der Klimakrise schauen wir besorgt aufs Wetter und fragen uns, was es uns sagen will. Haben Hitze, Regen oder Stürme ihre eigene Moral? Wer zu viel hineinlegt, droht den Blick fürs Eigentliche zu verlieren, meint Wolfram Eilenberger.
Weltzugänge ändern sich. Zu Zeiten verkehren sie sich sogar in ihr scheinbares Gegenteil. Wobei es zu den Genüssen einer fortgeschrittenen Biografie zählt, dieses wohl ewige Pendeln aus ureigener Erfahrung bezeugen zu können. So war es in meiner Kindheit noch gang und gäbe, die Ermahnung, keine Essensreste auf dem Mittagsteller zu belassen, mit der Drohung zu versehen, andernfalls werde der liebe Gott traurig. Und es also morgen schlechtes Wetter geben.
Allmächtiges Anthropozän
Wohingegen man heute von den eigenen Kindern in vergleichbarer Absolutheitstonalität ermahnt wird, doch bitte den täglichen Teller nicht allzu prall mit Milch- oder gar Fleischprodukten zu belegen. Andernfalls werde das Klima weiter leiden und das Wetter sich schon sehr bald noch heißer, trockener, extremer zeigen.
Moral: Über lange Jahrtausende, bis in unsere Gegenwart, war es die mutmaßliche Existenz eines allmächtigen Gottes, die einer alltäglichen Moralisierung des Wetters Sinn verlieh. Heute sind es wir selbst, als mutmaßlich ebenfalls Allmächtige – eben in Form des faktisch menschengemachten Klimawandels.
Willkommen also in der umstürmten Aufklärung des Anthropozäns! Eben jenem neuen Zeitalter, in dem ausnahmslos jedes Wetter- und Naturphänomen – Kunstwerken oder Texten gleich – auf eine von uns mit hineingewirkte Bedeutung und Message zu entschlüsseln und zu interpretieren bleibt.
Gegen die Interpretation
Es war im Jahre 1966, als die amerikanische Philosophin und Kritikerin Susan Sontag zur offenen Rebellion gegen das kulturprägende Diktat solch inhaltlichen Interpretierens aufrief. Unter dem Titel "Against Interpretation" veröffentlichte sie einen Essay, der – damals noch ganz bezogen auf den Bereich moderner und modernster Kunst – das geradezu zwanghafte Bestreben beklagte, sich jedem Werk und Happening mit Blick auf seine mögliche Bedeutung, seine moralische Aussage oder gar seinen konkret politischen Appel zu nähern. Es also gleich einem Text zu lesen, zu entschlüsseln, letztlich: sich aneignen zu wollen.
Nicht nur, dass dieses Geschäft der eigentlichen Botschaftssuche ein chronisch fehlerbehaftetes und in der Regel narzisstisch mannigfach überlagertes sei. Nein, vor allem, so Sontag, verunmögliche der Interpretationszwang Kunstwerke in ihrem schlichten Dasein, ihrer faktischen Gegebenheit und also produktiv störenden, bisweilen absoluten Fremdheit wirken zu lassen.
Gibt es denn – bis heute – kulturell Verunsichernderes, wahrhaft Weltzugangswandelnderes, als Artefakte, die gar nichts bedeuten und sagen wollen? Und taugten nicht – bis heute – gerade extreme Wetter- und Naturereignisse als paradigmatische Beispiele von Erfahrungen, die zunächst einmal gar nichts bedeuten wollen, sondern einfach da und geschehend sind? Liegt oder läge nicht gerade darin ihre unverlierbare Schönheit, ihre Faszination, ihre potenziell daseinsverwandelnde Kraft?
Für Lebendigkeit
Und welche Form der Naturbetrachtung wäre denn, weiter gefragt, gerade im Sinne eines unbedingten Schützens und Wahrens motivational die eigentlich wegweisende und wirksame? Wirklich die einer Natur, die uns nur interessiert, solange sie uns etwas zu geben und zu sagen hat? Oder die einer Natur, die nichts und niemandem etwas bedeuten will, sondern einfach nur da und ewig werdend ist: sinnlich aufwühlend, konkret eigensinnig, in all ihrer göttlich bedeutungsfreien Vitalität?
Susan Sontag schloss ihren Essay "Against Interpretation" damals mit dem epochalen Wink: "Statt einer Hermeneutik brauchen wir eine Erotik der Kunst." Etwas ganz Ähnliches ließe sich dieser Tage, im Namen unser aller Lebendigkeit, auch für das Wetter von morgen fordern.