Sexualität

Ohne Klitoris kein Orgasmus

Symbolbild sexuelle Selbstbefriedigung einer Frau. Eine weibliche Hand mit langen Fingernägeln berührt zärtlich eine geöffnete Grapefruit.
Die Klitoris ist für den Orgasmus der Frau zuständig. Über Jahrhunderte hatte sie keine Bedeutung in der Medizin - weibliches sexuelles Begehren wurde dadurch gesellschaftlich entwertet. © imago / Michael Bihlmayer
Beim Sex mit Männern kommen viele Frauen nicht zum Orgasmus. Betroffene kämpfen oft Scham und Schuldgefühlen, dabei sind die Ursachen gesellschaftlich verankert: Die Klitoris als Lustorgan der Frau ist in der Sexualkunde lange Zeit unterdrückt worden.
Viele Frauen haben Schwierigkeiten, beim Sex einen Orgasmus zu erleben. Das liegt nicht an der weiblichen Anatomie, sondern viel eher daran, wie Sexualität praktiziert wird. Die Klitoris wurde im Sexualkunde-Unterricht lange Zeit nicht als wichtiges Thema behandelt: In der Sexualaufklärung stehen für gewöhnlich die biologischen Grundlagen der Fortpflanzung im Vordergrund.
Weil die Klitoris keine Rolle für die Befruchtung der Eizelle spielt, wurde sie aus medizinischer Perspektive unbedeutend. Sie wurde teils sogar aus anatomischen Grundlagenwerken gestrichen. Besonders einflussreich war Sigmund Freuds Mythos des vaginalen Orgasmus, der sich bis heute auf die Sexualität von Frauen auswirkt. Das Thema ist mit Scham behaftet, viele Frauen kennen ihre sexuellen Bedürfnisse nicht. Seit einigen Jahren ist ein Umdenken spürbar. Frauen gehen selbstbewusster mit ihrer Sexualität um, indem sie lernen, wie die Klitoris funktioniert.

Klitoris in Büchern oft falsch abgebildet

Kulturwissenschaftlern und Biologie-Lehrern zufolge ist der Sexualaufklärungsunterricht in der Schule meistens sehr beschränkt auf die biologischen Grundlagen der Fortpflanzung: Das heißt, es wird hauptsächlich behandelt, wie der Samen die Eizelle befruchtet und ein Embryo entsteht.   
Da der Menstruationszyklus eine Rolle für die Befruchtung spielt, wird dieser ausführlich im Aufklärungsunterricht thematisiert. Da die Klitoris jedoch keine Funktion im Prozess der Fortpflanzung hat, wird sie oft nicht behandelt. In den Schulbüchern sieht man stattdessen nur Bilder der Scheide, der Gebärmutter und des männlichen Penis.
Die Klitoris als Teil des weiblichen Genitals wird in vielen Biologiebüchern falsch, zu klein oder gar nicht abgebildet. Wenn sie abgebildet wird, dann sieht man über der Vagina, also dem Scheideneingang, lediglich ein kleines Etwas, das eine Perle oder eine Erbse erinnert. Das ist eine unvollständige Darstellung im Gegensatz zum männlichen Genital. Das sei in etwa so, als ob beim Penis nur die Eichel gezeigt und der Rest fehlt einfach, sagt die Kulturwissenschaftlerin Louisa Lorenz, die in ihrem Buch „Clit“ über die Klitoris aufklärt.
Auch das Thema Lust spielt selten eine Rolle im Sexualkunde-Unterricht. Dabei ist der Schulunterricht für Jugendliche einer der wichtigsten Orte für die Sexualaufklärung, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in einer Umfrage herausfand.

Anatomisch entspricht Klitoris dem Penis

Die Klitoris ist ein Teil des äußeren weiblichen Geschlechtsorgans, das auch Vulva genannt wird. Die Vulva umfasst neben der Klitoris u.a. die inneren und äußeren Schamlippen sowie den vaginalen Eingang. Die Klitoris selbst ist ein Schwellkörper, der für die sexuelle Erregung der Frau zuständig ist und dehnt sich tief im Inneren des Körpers aus. Von außen ist lediglich die Klitoris-Eichel sichtbar.
Die gesamte Klitoris ist zwischen 8 und 14 cm lang, etwa so groß wie eine Handfläche. Sie besteht aus mindestens 10.000 Nervenenden, dazu kommen verschiedene spezielle Rezeptoren: Die Genitalkörperchen registrieren Berührung und gleitenden Druck, die sogenannten Vater-Pacini-Körperchen nehmen vor allem Vibrationsreize wahr.
Zur Klitoris gehören noch der Klitorisschaft, die Klitorisschenkel, die links und rechts am Beckenknochen anliegen und zu denen die Klitoris-Schwellkörper gehören. Ist eine Frau erregt, füllen sich die Klitorisschwellkörper mit Blut, wodurch ihre Größe rund 30 Prozent zunehmen kann. Genau das macht die Klitoris zum zentralen Lustorgan der Frauen. Anatomisch entspricht sie dem Penis.
In vielen jüngeren Veröffentlichungen heißt es oft, die Klitoris sei Ende der 1990er Jahre von Helen O'Connell vollständig entdeckt worden. Die australische Urologin von der University of Melbourne hatte 1998 Aufnahmen mit einer 3D-Kamera veröffentlicht.
O’Connell stellte fest, dass die Klitoris viel zu klein dargestellt wurde und dass ihre Schwellkörper und ihre Position im Verhältnis zur Harnröhre falsch oder gar nicht gezeigt werden. Für viele gilt sie deshalb als Entdeckerin der wahren Größe des Sexualorgans. Dabei ist die korrekte Anatomie der Klitoris schon seit mindestens 400 Jahren bekannt.

Klitoris als Organ für weibliche Lust

Dass die Klitoris als wichtigstes Organ für die weibliche Lust in der Sexualkunde vernachlässigt wurde, hat verschiedene historische Gründe.
Im christlichen Mittelalter wurde Frauen, die ihrem sexuellen Begehren nachgingen, gesagt, dass sie in die „Hölle“ kämen. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts verschob sich der Diskurs dann in den medizinischen Bereich. Der Biologe Édouard van Beneden fand 1875 heraus, wie menschliche Eizellen befruchtet werden. Obwohl es seit dem 16. Jahrhundert bereits vollständige Aufzeichnungen von der Klitoris gab, wurde sie mit dieser Entdeckung als überflüssig erklärt. Damit wurde auch der Orgasmus der Frau unbedeutend.
Gesellschaftlich wurden sexuelle Praktiken, die Lust zum Selbstzweck hatten und die nicht der Fortpflanzung dienten, zunehmend stigmatisiert. So auch homosexueller oder oraler Geschlechtsverkehr. Darüber hinaus wurden Frauen, die mastubierten, als krank diagnostiziert. Bis in die 1920er Jahre wurde manchen Frauen in Europa in blutigen Operationen die Klitoris-Eichel entfernt. Die Klitoris verschwand sogar aus medizinischen Fachbüchern, wie etwa aus dem Anatomie-Standardwerk des britischen Arztes Henry Gray.

Sigmund Freud wertete klitoralen Orgasmus ab

Besonders verantwortlich für die schwindende Aufmerksamkeit für die Klitoris machen viele Genderforscherinnen heute Sigmund Freud. Der renommierte Psychoanalyst rief in den 1930er Jahren den Mythos des klitoralen und des vaginalen Orgasmus ins Leben.
Freud behauptete, der klitorale Orgasmus sei unreif und minderwertig und nur die vaginale Orgasmusfähigkeit sei vollwertig. Mit seiner Theorie des vaginalen Orgasmus hat der österreichische Psychoanalytiker Freud das Bild einer weiblichen Sexualität verfestigt, die passiv, abhängig vom Mann und auf die Fortpflanzung begrenzt ist.
Dieser Mythos beeinflusst die gesellschaftlichen Vorstellungen über den weiblichen Orgasmus bis heute und wird von Generation zu Generation weitergetragen. Viele Frauen, die keinen vaginalen Orgasmus erleben, denken bis heute mit ihnen stimme etwas nicht oder sie seien krank.
Anders als beim vaginalen Orgasmus kann der klitorale Orgasmus durch das Stimulieren im äußeren Bereich der Vulva erfolgen. Beim klitoralen Orgasmus braucht es also keine Penetration wie beim vaginalen Orgasmus – das macht die weibliche sexuelle Befriedigung unabhängiger vom Mann.
Der Psychotherapeut und Sextherapeut Umut Özdemir klärt in sozialen Medien über Sexualität auf und sagt: Einen vaginalen Orgasmus gibt es gar nicht. „Über die vaginale Penetration erlebt man indirekt eine klitorale Stimulation. Das ist auch ein klitoraler Orgasmus“, so Özdemir.
Das Unwissen über den klitoralen Orgasmus führe dazu, dass viele Frauen weder ihre Bedürfnisse nicht kennen, noch wie sie diese erfüllen können, sagt der Sextherapeut. Die Auswirkungen der Unterdrückung der weiblichen Sexualität zeigen sich somit bis heute.

Penetrativer Sex führt oft nicht zu Orgasmus

Erst langsam kommt die Klitoris zurück ins Bewusstsein der Forschung und der Frauen selbst. Die Bedeutung der Klitoris nimmt durch moderne Sexualwissenschaften, Gender-Forschung oder Kulturwissenschaften wieder zu. Viele Frauen, die keinen oder selten zum Orgasmus kommen, erleben einen Aha-Effekt, sobald sie anfangen zu verstehen, wie ihre Klitoris funktioniert.
Das mangelnde Wissen über die Klitoris hat lange Zeit gesellschaftliche Codes geprägt, wie Sex ablaufen sollen. Forscherinnen nennen das „sexuelle Skripte“: Damit ist gemeint, dass Geschlechtsverkehr nicht etwa natürlich oder von alleine abläuft, sondern nach einem relativ festen Ablauf, wie eine Art Drehbuch. Und dabei wird von jedem Geschlecht auch ein bestimmtes Rollenverhalten erwartet.
Für die Kulturwissenschaftlerin Louisa Lorenz fängt es schon damit an, dass es eine gesellschaftliche Vorstellung von "richtigem" Sex gebe. Der „richtige“ Ablauf“ wird häufig unterteilt in Vorspiel und Sex, wobei mit „Sex“ vaginaler Geschlechtsverkehr gemeint ist.
„Vaginaler Geschlechtsverkehr ist etwas, wo der Penis sehr zentral stimuliert wird, aber nicht unbedingt die Klitoris“, sagt die Kulturwissenschaftlerin Louisa Lorenz. Für Menschen mit Klitoris sei es aber nicht die immer zentrale sexuelle Handlung, die sie zuverlässig zum Orgasmus bringe.
Eine Folge dieser sexuellen Skripte ist auch, dass Frauen denken, dass sie nicht normal seien, wenn sie beim penetrativen Sex nicht zum Orgasmus kommen. Das wachsende öffentliche Bewusstsein für die Bedeutung der Klitoris geht für viele Frauen deshalb mit einem Gefühl der Ermächtigung einher.

Klitoris im Sexualkunde-Unterricht

Sexualpädagogen zufolge ist es bedeutsam, dass die Klitoris im Sexualkunde-Unterricht in der Schule als Grundlage behandelt wird. „Wenn im Aufklärungsunterricht alles benannt wird, wenn in Büchern die Anatomie richtig abgebildet wird, dann ermächtigt das junge Menschen, ihre Körper anzunehmen und sich in ihnen wohlzufühlen“, sagt die Biologie-Lehrerin Sina Krüger.
Für die Kulturwissenschaftlerin Louisa Lorenz ist das die Voraussetzung dafür, dass gesellschaftliche Tabus über weibliche Lust und Sexualität abgebaut werden. „Eine gleichberechtigte Sexualaufklärung wirkt auch in die Gesellschaft hinein“, sagt Lorenz. „Die Auseinandersetzung mit der Klitoris steht auch für ein ausgefülltes Leben und für sexuelle Selbstbestimmung.“
Inzwischen haben auch die größten deutschen Schulbuchverlage, Klett, Cornelsen und Westermann, ihre Abbildungen der Klitoris überarbeitet. In ihren Biologiebüchern ist sie seit 2022 jetzt ganz zu sehen.

tan
Mehr zu weiblicher Sexualität