Kloster Maulbronn

Von Andreas Wenderoth |
Das 860 Jahre alte Kloster Maulbronn, in der Unesco-Liste als Weltkulturerbe geführt, bildet die Kulisse für Hermann Hesses stark autobiographisch geprägte Erzählung "Unterm Rad". Darin bricht der Musterschüler Hans Giebenrath, getrieben durch seinen ehrgeizigen Vater, unter schulischem Leistungsdruck zusammen und erkrankt.
Ein Jahrhundert nach Erscheinen des Romans hat sich das Leben in dem altsprachlichen evangelischen Internatsgymnasium verändert. Der Karzer ist abgeschafft. Von den Decken hängen keine Öllaterne mehr, aber die Betten sind noch genauso schmal wie damals. Unterm Rad.

"Mit anderen Schulen kann man das gar nicht vergleichen, da ist man so ´n verschwindend geringer Teil von einem großen Klotz, wo eigentlich niemand Lust hat zu lernen. Hier ist ´ne Bereitschaft da, die Möglichkeit zu nutzen, die man kriegt. Es ist einfach immer ´ne generelle Lernhaltung da, oder?"

"Man lernt auch auf andere Werte zu achten. Ob einer Hugo-Boss-Klamotten trägt oder nicht, ist nicht der Punkt. Dieser oberflächliche Eindruck, wie ist jemand angezogen, Geld, Boss-Shirt oder nicht, Handy, das verschwindet nach vielleicht ´ner Woche oder so."

"Ich verwende das Wort Eliteschule nicht aktiv, aber wenn mir das jemand sagt, kann ich´s ja auch nicht bestreiten, das wir von den Möglichkeit hier ganz anders vorgehen können als es in einer großen Schule ist, wo die Schüler nur zum Unterricht gehen. Eine völlig andere Chance, die wir haben, und die wir auch nutzen."

"Herr, lass mich immer das Ziel vor Augen haben. Damit ich nicht die Geduld verliere, nicht bei Dingen, die ich bewerkstelligen muss und auch nicht mit den Menschen, mit denen ich zu tun habe. Hilf mir meinen Weg weiterzugehen, auch wenn ich längst schon aufgegeben habe. Hilf mir, auf dich zu vertrauen. Amen."

7.15 Uhr. Evangelisches Klosterseminar Maulbronn. Jeden Freitag sind die Internatsschüler selbst für die Morgenandacht zuständig. Ein gutes Dutzend Jungs und Mädchen sitzen in dem kleinen kahlen Raum neben dem Fernsehzimmer, im Kreis um eine Kerze und stärken sich mit der Kraft des frühen Gebets. Feiner Nebel liegt über dem Tal. Draußen ist es jetzt noch ganz still, die Touristen kommen erst gegen Mittag.

Seit der Reformation gibt es in dem Zisterzienserkloster Maulbronn keine Kutten mehr, dafür seit gut vier Jahrhunderten ein altsprachliches evangelisches Internatsgymnasium, das 50 Stipendiaten ein von den vielfältigen Ablenkungen des Lebens abgeschirmtes humanistisches Lernen ermöglicht. Das 860 Jahre alte Kloster, in der Unesco-Liste als Weltkulturerbe geführt, bildet die Kulisse für Hermann Hesses 1906 erschienene, stark autobiographisch geprägte, Erzählung "Unterm Rad". Darin bricht der Musterschüler Hans Giebenrath, getrieben durch seinen ehrgeizigen Vater, unter schulischen Leistungsdruck zusammen, erkrankt und sucht am Ende den Freitod im Fluss.

"Ich hab Buch zum ersten Mal gelesen, als ich hier Schüler war. Ich hatte damals einen Lieblingssatz, den konnt ich damals auch auswendig, heute nicht mehr ganz, der heißt ungefähr so: Ein Schulmeister hat lieber zehn notorische Esel in seiner Klasse als ein Genie. Wie gesagt, mein Lieblingssatz, ich denke, dass ich ihn auf mich bezogen hab, ich hab mich übrigens nicht als Esel verstanden, als ich das Buch als Student noch mal gelesen hab, dacht ich na, ja also Hermann, Hermann! Und wenn ich jetzt reinschaue, denk ich, er hätte vielleicht n paar Gedichte mehr schreiben sollen, die sind wunderschön. Und diesen Roman hätt´ er sich ersparen können. Und uns!"

... sagt vor dem plätschernden Brunnen im Ephoratsgarten Schulleiter und Ephorus Tobias Küenzlen, 49 Jahre, graumeliert, der in Hesses Roman weniger eine literarische Leistung als eine Generalabrechnung mit Gesellschaft und Elternhaus sieht. "Ephorus" heißt auf Griechisch "Aufseher", aber Küenzlen hat so gar nichts Gestrenges. Der studierte Theologe, wie Kepler, Hölderlin und Hesse einst selbst Schüler in Maulbronn und jahrelang Gemeindepfarrer, ist ein Schulleiter mit natürlicher Autorität. Den weißen Umhang trägt er nur, wenn er predigt, heute ist er in schwarzen Jeans, Turnschuhen und weißem Hemd. Aus der Hosentasche lugt ein Schlüsselanhänger hervor, auf dem in großen Buchstaben "ABT" steht, ein fast selbstironischer Hinweis auf seine Tätigkeit.

"Hinter uns ist ne Ruine, das ist das sogenannte Pfründhaus, 1892 abgebrannt, also genau in der Zeit, als Hesse hier war. Er hat noch beim Löschen geholfen. Wenn ich etwas mehr Zeit hätte, würde ich eine Legende konstruieren, dass Hesse als Brandstifter infrage kommt, aber ich bin zurzeit mit andern Dingen beschäftigt, sodass ich da leider keine Indizien herbeischaffen kann."

Ephorus Küenzlen muss nun wieder hinein, ein Schulleiter kann den Tag schließlich nicht im Garten verbringen. Die Sonne hat die Wolkendecke durchbrochen und taucht den Sandstein des Klosters jetzt in mildes Licht. Auf einer Bank an der Wehrmauer oberhalb des Klostergartens sitzt ein 15-jähriger Schüler, kurze braune Haare, Flip-Flops, aufgeweckter Blick, und in einer Weise aufgeräumt, die bei Jugendlichen seines Alters eher die Ausnahme bildet.

"Ich heiße Dennis Klose, ich komme ursprünglich aus Kuchen, das ist zwischen Stuttgart und Ulm, wo's auf de Alpen noafgoat, wie man so sagt, ich bin seit eineinhalb Jahren hier und hab's bisher noch nicht bereut."

Der Sohn eines Kriminalhauptkommissars und einer Industriekauffrau, der anders als Hesses Romanfigur alles andere als introvertiert ist, sieht "Unterm Rad" als eine Art Lokalkrimi, vielleicht kein literarischer Gipfel, aber spannend, vor allem dadurch, dass die atmosphärischen Ortschilderungen, weil die Zeit stehen geblieben scheint, bis heute gültig sind. Von einigen neu eingezogenen Brandmauern abgesehen, ist die weiträumige Klosteranlage rein äußerlich seit dem Mittelalter nahezu unverändert. Hier oben, von der kleinen Sitzbank aus, erstreckt sie sich vor seinen Augen. Er hat eine offenbar oft gelesene Hesse-Ausgabe dabei, in der er zielstrebig zum Anfang des dritten Kapitels blättert. Mit der Hand schirmt er die Sonne von seinen Augen ab und beginnt zu lesen.

"Ganz im Nordwesten des Landes liegt zwischen waldigen Hügeln und kleinen stillen Seen das große Zisterzienserkloster Maulbronn. Weitläufig, fest und wohlerhalten stehen die schönen alten Bauten und wären ein verlockender Wohnsitz, denn sie sind schön, von innen und außen, und sind in den Jahrhunderten mit ihrer ruhig schönen, grünen Umgebung edel und innig zusammengewachsen. Wer das Kloster besuchen will, tritt durch ein malerisches, die hohe Mauer öffnendes Tor auf einen weiten und sehr stillen Platz. Ein Brunnen läuft dort und es stehen alte ernste Bäume da und zu beiden Seiten alte steinerne und feste Häuser und im Hintergrunde die Stirnseite der gewaltigen Hauptkirche mit einer spätromanischen Vorhalle, Paradies genannt, von einer graziösen, entzückenden Schönheit ohnegleichen. Auf dem mächtigen Dach der Kirche reitet ein nadelspitzes, humoristisches Türmchen, von dem man nicht begreift, wie es eine Glocke tragen soll." (Suhrkamp 1988, Kapitel 3, S. 63, Zeilen 1-17)

Dennis deutet mit dem Finger auf den Turm, an dessen Fuße jetzt Touristen auf Einlass in die Hauptkirche warten. Mit der Klostergeschichte bestens vertraut, erklärt er die etwas zerbrechlich wirkende Konstruktion des hölzernen Dachreiters damit, dass die Zisterziensermönche ihre Kirchtürme nicht aus Stein bauen durften. Äußerlich ist alles wie damals. Aber was ist mit den restriktiven Erziehungsmethoden, dem Erker, der jenen drohte, die nachts aus dem Fenster stiegen? Werden die Schüler wie in Hesses Roman zur Angepasstheit erzogen? Der hochbegabte Jungmathematiker Dennis verkörpert sozusagen das Gegenteil. Er befindet sich gerade in einer marxistischen Phase und akzeptiert grundsätzlich nur solche Autoritäten, die welche sind. Er lächelt, nicht überheblich, aber durchaus selbstbewusst, als er sagt:

"Wenn sich mir nicht auf ersten Blick der Sinn darlegt, wenn mir jemand ´ne Anweisung gibt, wo ich nicht dahinter steig, ob der grad Lust hat, dass ich jetzt das mach, oder ob das tiefen Grund hat, das kann auch den Lehrern und Eltern ziemlich auf die Nerven gehen, wenn man meint, man müsste alles hinterfragen. So ´ne Art Krankheit von mir ... Manche würden sagen, ich bin einfach bockig oder antiautoritär. Aber ich denke, es ist eigentlich ganz gesund, wenn man über irgendwelche Anweisungen auch nachdenkt."

Der Seminarschüler Dennis muss zurück in den Unterricht und verabschiedet sich. Unterdessen dreht Schulleiter Küenzlen, nachdem er ein paar Selbstgedrehte inhaliert hat, im ersten Stock des Schultraktes seine Runde. In der Eingangshalle links hinter der Tischtennisplatte ist eine große Tafel an der Wand: "Tabula Originum Alumnorum" steht darüber, mit Fähnchen sind hier die Heimatorte der Seminaristen gekennzeichnet. Links davon eine kleine Sitzecke mit Aquarium, die den Schnittpunkt aus Wohn- und Arbeitsbereich darstellt. Fast beiläufig deutet Küenzlen auf die gerahmten Zeichnungen an der Wand neben dem Lehrerzimmer:

"Das sind originale Schülerzeichnungen von Hermann Hesse: Man sieht von kindlicher hand gezeichnete Figuren, karrikatureske Gestalten mit Spitzbart, hier zum Beispiel ein Lehrer, der mit einem Dolch auf eine kleinere Figur einsticht, das dürfte wohl ein Schüler sein. Mit anderen Worten, das sind Zeichnungen, mit den Lehrer attackiert worden, deswegen wurden Zeichnungen auch konfisziert und sind bis heute hier. Hätte Hesse damals schon so langweilig gemalt, wie später, hätt er sie mitnehmen können, aber jetzt sind sie da."

Die Schulglocke ertönt und kündigt vom baldigen Beginn so begehrter Fächer wie Griechisch, Latein oder Hebräisch. Schulleiter Küenzlen verzieht das Gesicht, der schrille Ton ist ihm unangenehm.

"Das ist schrecklich! Wir sind ´ne Schule mit Musikprofil und haben die hässlichste Schulglocke der Welt ... also hier Kirche Kreuzgang, gegenüber Brunnen, und draufgesetzt dieses Fachwerkgebäude, das Klassenzimmer ..."

Über dem Brunnenhaus mit seinen hohen gotischen Fensterbögen thront an der Nordseite des Klosters wie ein Adlerhorst das schönste Klassenzimmer der Republik. Der große Hörsaal des evangelischen Seminars. Elf Fenster - Panoramablick, Parkettboden, metallene Deckenleuchten. Nicht ohne Stolz schreitet Küenzlen durch den Raum, in dem er aus Schülern selbständig denkende Menschen mit ethischen Prinzipien formt. Hier lehrt er, Geschichte, Altgriechisch und bei Bedarf auch Latein. Hier fühlt er sich wohl.

"Die Tafel könnte noch aus Hesses Zeit stammen. Hier mit den Ketten, aus berufsgenossenschaftlicher Sicht, gewisse Tücken, macht sich manchmal selbständig, aus Sicherheitsgründen sagt man, die Tafel darf nicht mit freilaufenden Ketten betreiben werden, da könnt man sich verletzen, aber aus letzten 100 Jahren kein Fall bekannt, wo sich jemand verletzt hat, und deshalb werden wir die auch so erhalten, wenn’s geht ..."

Seitlich vom Hof, an der großen Magnolie vorbei, fällt ein Bündel Sonnenstrahlen ein und zaubert flirrende Lichtspiele auf die holzvertäfelten Wände. Bei geöffnetem Fenster ist das Rauschen des dreischaligen Brunnens zu hören, über dem sich das Klassenzimmer befindet. Jetzt ist es ruhig, beinahe jedenfalls.

Die 23 Schüler sitzen an einer u-förmigen Tischformation, aufgelockert durch zwei Doppeltische in der Mitte. Auf dem Pult vor der Tafel Schulleiter Tobias Küenzlen, die Beine lässig baumelnd. In Erwartung großer Ereignisse schaut er durch seine Nickelbrille in die Runde. Mit leichter Ironie jonglierend, verleitet Küenzlen seine Schüler, scheinbar unangestrengt, zu gedanklichen Höhenflügen. Um Agnostiker und Sophisten geht es, um die Verantwortung des Einzelnen, Sterbehilfe, Sokrates und was sonst noch alles den Rahmen einer normalen Griechischstunde sprengen kann.

"Sokrates hat ja gesagt, ich weiß, dass ich nichts weiß, die Sophisten haben gesagt, der Mensch ist das Maß aller Dinge und das beißt sich ja schon von den Grundsätzen her."
"Super genau ... Das Maß aller Dinge ist der Mensch, kann das jemand auf ausländisch sagen, sei es Lateinisch oder Griechisch, braucht man zum Rumprotzen. A paaltontropos. Cumum mensurum."
"Jetzt noch was für besonders interessierte Menschen. Wenn ihr den Satz hört, der Mensch ist Maß aller Dinge, wer denkt so heute?"
"Die Satanisten?"
"Das ist ein ganz spezielles Thema. Die denken in jedem Fall nicht so wie Sokrates ..."

Alles Spitzfindige aufnehmend und seinerseits überhöhend, motiviert Küenzlen, leitet an, gibt Raum für eigene Interpretationen. Eine angstlose Atmosphäre, so gar nicht im Sinne von Hesses Roman, die zum unangepassten Denken ermutigt, nicht Fehlern Gewicht gibt, sondern individuellen Möglichkeiten. Ein Feuerwerk der Gedanken, eine Lehrstunde, ein Beispiel, wie Unterricht sein kann. Küenzlen, der den Menschen, anders als die Sophisten, nicht für das Maß aller Dinge hält, sagt:

"Und deshalb Magdalena, schließ ich mich dir natürlich an, die richtigen Philosophen sind nicht die Sophisten."
"Aber wenn wir das jetzt so eingetrichtert kriegen, denken wir vielleicht gar nicht drüber nach, ob wir wirklich selber dieser Überzeugung sind."
"Ich bin ganz fest davon überzeugt, dass du darüber nachdenkst und dass du dir das nicht von mir eintrichtern lässt. Allerdings erlebt ihr hier halt ´ne Position, jetzt hier zum Beispiel meine und könnt dann euch selber dazu positionieren und sagen das ist okay, was der sagt, oder halb oder gar nicht. Das ändert sich übrigens im Laufe des Lebens ..."

50 Meter entfernt, in der Eingangshalle, rechts von der Tischtennisplatte, befindet sich das Arbeitszimmer Hellas, das mit der im Roman erwähnten Schlafstube jedoch nichts mehr zu tun hat. Die wurde dem neuen Chemieraum geopfert, der seit Mitte der 70er-Jahre statt Betten nun mit ansteigenden Tischreihen aufwartet, neuen Fenstern und diversen Sicherheitserfordernissen, die übelriechende und funkensprühende Versuchsanordnungen nun einmal mit sich bringen.

Einen Stock höher, in der Wohnstube von Dennis ist das Fenster geöffnet. Seine beiden Zimmergenossen sind ausgeflogen. Dennis, von dem nicht anzunehmen ist, dass er je "unters Rad" kommt, liest aus dem gleichnamigen Roman die Stelle, in der Hesse die Ankunft des neuen Zöglings im Kloster beschreibt.

"Auch Hans kam sich ziemlich verloren vor, schaute bald mit beklommener Neugierde durch die Fenster in den stillen Kreuzgang hinab, dessen altertümlich einsiedlerische Würde und Ruhe sonderbar im Gegensatz zu dem oben lärmenden jungen Leben stand. Bald beobachtete er schüchtern die beschäftigten Kameraden, von denen er noch keinen kannte." (Hesse, Suhrkamp 1988, S.68, Zeilen 5-12)
"Ich bin ´n ziemlich kontaktfreudiger Mensch, ziemlich wenig von Heimweh oder solchen Gefühlen geplagt, insofern war's für mich weniger ´n Ende als ´n Anfang, hab das ziemlich positiv gesehen. Ganze Familie angekommen, Wetter wie heute, hatten ´ne Zimmernummer gezogen ..."
Hat der Protagonist des Romans Hans Giebenrath seine Wohnstube mit neun anderen zu teilen, gibt es seit der Neueinteilung des Dorments in den 70er-Jahren jetzt nur noch Drei und Vier-Bettzimmer. Von der Decke hängt keine Erdöllaterne mehr, aber die Betten sind immer noch genauso schmal wie früher.
"Das ist unser vier mal fünf Meter Zimmer, haben Glück sind oben, Dachschräge, eigentlich macht es das ziemlich schön, ja halt spärlich eingerichtet, drei Betten, drei Schränken 'n Tisch. Von der Dekoration ist jedem selbst überlassen, was er aufhängen möchte oder nicht. Paceflagge aufgehängt, Europaflagge, Landschaftsbilder schöne ei Fjord, wo sich Berge im Wasser widerspiegeln, ´ne Schweizflagge, warum wir sie haben wissen wir selbst nicht so genau aber sie hängt da halt ..."
13 Uhr, Chorprobe. Der Chor ist freiwillig, die Tatsache, dass alle 50 Schüler der neunten und zehnten Klasse daran teilnehmen, spricht für seine Beliebtheit. Dennis steht jetzt in der ersten Reihe unweit des Klaviers und Chorleiter Budday, der im kurzärmligen Hemd mit ausgreifenden dirigierenden Bewegungen versucht, Struktur in das Stück zu bringen, das er noch für stark entwicklungswürdig hält.

Nach dem Chor werden im selben Raum neue musikalische Höhen erklommen, das Orchester probt Mussorgsky, ein Streichquartett müht sich an einer Komposition Abels in G-Dur. Und irgendwo, einige Gänge entfernt, sitzt der 14-jährige Arno, der nicht nur wegen seiner Begeisterung für Einsteins Relativitätstheorie schulintern als Genie gehandelt wird. Er spielt, wovon hier sonst niemand etwas versteht. Arno ist Jazzer, von einnehmendem Wesen, und so schmächtig, dass er hinter dem Klavier fast verschwindet. Aber er muss nicht gesehen werden. Er wird schon dafür sorgen, dass man von ihm hört.

Am Abend vertieft sich Dennis noch einmal in Hesse:

"Über die alten spitzen Dächer, Türme, Erker, Fialen, Mauerzinnen und spitzbogigen Galerien stieg ein blasser halber Mond herauf, sein Licht lagerst sich an Gesimsen und Schwellen, floss über gotische Fenster und romanische Tore und zitterte bleichgolden in der großen, edlen Schale des Kreuzgangbrunnens." (Suhrkamp 1988, S.72, Zeilen 2-7)

Um halb zehn müssen Jungen und Mädchen in ihren Wohntrakten sein. Die Gebäude sind jetzt verschlossen, und die Jungs kickern sich langsam müde. Auch einige Wasserweitspritzpistolen kommen zum Einsatz, bis Ephorus Küenzlen sich davon überzeugt, dass jeder auf seinem Zimmer ist. Dennis spielt noch ein wenig Gitarre. Dann fallen er und die anderen in einen tiefen Schlaf voller aufwühlender, anregender Träume, die dem Schriftsteller Hesse ein Jahrhundert zuvor zum Alptraum wurden.