Knallhart realistischer Roman

Rezensiert von Marko Martin |
Der siebte Roman des aus Sansibar stammenden Abdulrazak Gurnah spielt an der ostafrikanischen Küste. In "Die Abtrünnigen" geht es um Zugehörigkeit und den Mut, so etwas wie individuelles Glück zu suchen. Im Jahre 1899 verliebt sich ein englischer Orientalist in die Schwester eines schwerreichen, indischstämmigen Einheimischen – ein unerlaubter Bruch mit der geltenden Konvention.
Abdulrazak Gurnah ist, ähnlich wie der Literaturnobelpreisträger Sir V.S. Naipaul, auf einer kleinen Insel geboren, welche er mit knapp zwanzig Jahren verließ, um im einstigen "Mutterland" Großbritannien zu studieren und anschließend Bücher zu schreiben – über seine Insel und das Sich-Durchdringen von Kulturen, Traditionen und Zeiten.

Damit aber enden auch schon die Parallelen zwischen dem 1932 auf dem Karibik-Eiland Trinidad geborenen Sir V.S. Naipaul und jenem aus Sansibar stammenden Abdulrazak Gurnah, der 1968 vor dem realsozialistischen Regime seines Heimatlandes nach Großbritannien flüchtete und seit 1985 an der Universität von Kent Literatur lehrt.

Gewiss: Naipaul ist – bis jetzt – nicht nur im angelsächsischen Raum ungleich berühmter, wenn auch seine stilistische Brillanz, einhergehend mit profunder Ideologieskepsis, seit den letzten Romanen einige Ermattungserscheinungen aufweist und eher zum Mittel geworden scheint, einem rabenschwarzen Fatalismus das (rhetorische) Wort zu reden. Vielleicht ist es ja doch sinnvoll, Abdulrazak Gurnah, dessen vorherige Romane bislang nur in einem couragierten Münchner Kleinverlag erschienen waren, mit oder gegen Naipauls Bücher zu lesen.

"Die Abtrünnigen", Gurnahs siebter und soeben im Berlin Verlag auf deutsch erschienener Roman, spielt nämlich ebenso wie Naipauls "Ein halbes Leben" an der ostafrikanischen Küste. Hier wie dort geht es um Zugehörigkeit und jene Fremdheit, die jeden gleich einem cordon sanitaire zu umschließen beginnt, der es wagt, an den Riten eben jener Zugehörigkeit vorbei so etwas wie individuelles Glück zu suchen. Die Geschichte beginnt im Jahre 1899, als sich ein englischer Orientalist in die Schwester eines schwerreichen, indischstämmigen Einheimischen verliebt – ein unerlaubter Bruch mit der geltenden Konvention.

Im zweiten Teil des Romans wird die Geschichte von Jamila, der Enkeltochter der beiden "Abtrünnigen", erzählt. Diese verliebt sich in den etwas jüngeren Amin, und erneut setzen die Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung ein. Daran ändert sich auch nichts, als das halb-feudale Sansibar schließlich zum sozialistischen Musterland wird, das sogar von der DDR Unterstützung erhält. Die Herren kommen und gehen, der Zwang aber bleibt. Und die Liebe – ist sie stärker? Abdulrazak Gurnah schreibt keine kitschigen Schmöker, sondern ebenso poetische wie knallhart realistische Romane.

Das bedeutet: Seine Helden scheitern. Die Kraft aber, und die Eindringlichkeit, mit der er von ihnen erzählt, lassen sie weiterleben in einer Literatur, deren Wert sich nach dem bemisst, was Albert Camus einmal forderte:

"Es kommt darauf an, den Menschen Gründe gegen ihr Schicksal zu liefern."

Nichts Geringeres unternimmt dieser Roman.

Abdulrazak Gurnah: Die Abtrünnigen
Aus dem Englischen von Stefanie Schaffer-de Vries
Berlin Verlag, Berlin 2006.
350 Seiten, 22,40 Euro