Knastgeschichte(n)

Von Friederike Schulz |
Mit Verbüßung und Bestrafung wurde das Leben hinter Gittern gemaßregelt. Im Fall von Werl haben die Gefangenen sogar ihr eigenes Gefängnis gebaut. Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nazizeit und die Bundesrepublik - die Rechtssprechung in den unterschiedlichen historischen Etappen war auch immer die Geschichte ihrer Gefängnisse.
Vollzugsbeamter: "Schönen Guten Tag, willkommen in der JVA Werl. Sie unterschreiben zunächst mal für die Pakete, die sie mitgebracht haben. Einmal die Unterschrift… Wenn Sie das dann fertig haben, kriege ich einmal ihre Schuhgröße. Dann kommen Sie einmal mit hier rum, bitte. Dann bitte einmal alles leer machen, was Sie in den Hosentaschen haben, alles hier auf den Tisch legen. Dann können Sie weiter gehen in die Umkleidekabine und einmal komplett entkleiden…Wenn Sie dann umgezogen sind, gucken wir ihre Habe durch, das was erlaubt ist, können sie mit auf den Haftraum nehmen."
Der Vollzugsbeamte lächelt freundlich, dann zeigt er zur Tür – sein Kollege schließt sie auf, begleitet den neuen Häftling, nun gekleidet in blaue Arbeitshose und Poloshirt, auf seine Zelle. – Ab sofort ist eine Sieben-Quadratmeter-Zelle in der Justizvollzugsanstalt Werl sein neues Zuhause. Ein Ausbruch scheint unmöglich: Eine sechs Meter hohe Mauer umgibt den kreuzförmig angelegten Backsteinbau. An jeder Ecke des 13 Hektar großen Areals steht ein Wachturm.

Häftling: "Ein erdrückendes Gefühl. Sie müssen hier jeden einzelnen Schritt beantragen. Sie kommen hier 50 Meter weit, und dann ist eine Tür abgeschlossen. Abends sagt ihnen jemand: So jetzt ist die Tür zu. Du kannst dich nicht bewegen. Du darfst einmal am Tag raus in die Freistunde, wo man draußen sagt: Ich gehe jetzt spazieren. Das sind erdrückende Sachen, die einem die Luft wegnehmen, wenn man sieht, wie groß diese Zellen sind. Wenn man früher freiheitsliebend und naturverbunden war – also dieses Gefühl ist sehr erdrückend."

Sagt einer, der es wissen muss. Seit 13 Jahren sitzt Dirk Z. ein. Sein Verbrechen: Mord. Darauf steht in Deutschland lebenslänglich. Wann er entlassen wird, weiß der 40-Jährige nicht. Er ist einer von 800 männlichen Gefangenen, die derzeit in Werl einsitzen. – Die meisten von ihnen sind "schwere Jungs", erklärt der Leiter der JVA, Michael Skirl.

"Von den Delikten: Die schweren Gewalt- und Sexualstraftaten, die Tötungsdelikte, die schweren Raubdelikte, die schweren Körperverletzungsdelikte, aber auch die große Drogenkriminalität und die große Wirtschaftskriminalität, Steuerhinterzieher, Betrüger in Millionenhöhe und Rauschgifthändler finden sie hier unter den Gefangenen."

Dementsprechend streng sind die Sicherheitsvorkehrungen. Bei seinem täglichen Rundgang durch die Haftanstalt hält Michael Skirl immer den Schlüsselbund gezückt. Auf den lang gestreckten Fluren der Zellentrakte muss alle paar Meter eine Tür aufgeschlossen werden. Auf zwei Gefangene kommt ein Bediensteter. Schließlich gilt es, das Sicherheitsrisiko möglichst gering zu halten.

Auf dem C-Flügel, im geschlossenen Vollzug, steht Amtsinspektor Meinhof Schemm auf dem Flur und überwacht die Verteilung des Mittagessens. Um Menschenansammlungen und somit potenzielle Gefahrensituationen zu vermeiden, wird jeder Insasse in seiner Zelle von einem Mitgefangenen bedient. Jeder bekommt einen verschlossenen Aluminiumtopf – darin dampfende Gemüsesuppe. Ein junger JVA-Beamter öffnet und schließt die Türen. Meinhof Schemm zeigt auf den metallenen Essenswagen.

"Früher gab es hier Essen noch aus Kübeln, wie man das aus Knastfilmen kennt. Aber ich denke, das Auge isst ja auch mit, und das ist hygienischer. Das Essen kommt auch warm an. Das sind so spezielle Thermowagen. Das Essen schmeckt dann auch besser."

Seit 26 Jahren arbeitet Meinhof Schemm in der JVA Werl. Der gelernte Malermeister wollte einen sicheren Job im öffentlichen Dienst haben, und die Justizvollzugsanstalt ist in der 33.000-Einwohnerstadt einer der größten Arbeitgeber.

"Es ist eigentlich ein Job wie jeder andere. Man kennt die Leute auf seiner Abteilung, man weiß ungefähr, was auf einen zukommt. Man muss natürlich einen gewissen Sicherheitsanspruch wahren, auch für sich selber. Wir haben hier auch unsere Dienstvorschriften. Man muss natürlich die Augen aufhalten. Es gibt hier gewisse Spielregeln, die man einhält. Mehr kann man eigentlich nicht tun."

Musik: Reinhard Mey "In Tyrannis"
Von Wand zu Wand sind es vier Schritte,
Von Tür zu Fenster sechseinhalb,
Aber das Fenster ist zu hoch
Und viel zu weit fort von der Pritsche,
Um dadurch irgendwas zu sehen,
Außer dem Stückchen grauen Himmel.
Jetzt wird es wohl so sieben sein.
Sie haben mir die Armbanduhr
Und meine Kleider weggenommen
Und mich in Drillichzeug gesteckt.


Der Tag in der JVA Werl ist streng durchorganisiert. Um 5.30 Uhr Wecken, Anziehen, Frühstücken. Um Viertel vor Sieben rücken die ersten Betriebe zur Arbeit aus. Die Strafgefangenen sind, sofern sie dazu in der Lage sind, verpflichtet zu arbeiten – ob in der Bäckerei, der Küche oder der Schreinerei.

Die Gefangenen produzieren nicht nur für den Eigenbedarf. Sie fertigen zum Beispiel Möbel für die Büros der Justizverwaltung und zerlegen für externe Betriebe alte Kupferkabel. 15 Euro bekommt jeder Häftling pro Tag. Ein Teil wird einbehalten, um ein kleines Polster für die Zeit nach der Entlassung anzusparen. Der Rest dient als Taschengeld – für Zigaretten, Kaffee oder Schokolade. Die kleinen Einkäufe beim Anstaltskiosk müssen allerdings schriftlich beantragt werden. Gegen 15.45 Uhr endet der Arbeitstag, erzählt Insasse Dirk Z.

"Um 16 Uhr wird die Abendkostausgabe verteilt, Duschen wird durchgeführt. Dann ist von 17 bis 18 Uhr eine Freistunde, also da ist Aufenthalt im Freien. Dann von 18 Uhr bis 21 Uhr kann man dann zum Umschluss auf eine Nachbarzelle gehen, wenn man dann mit irgendeinem Karten spielen will oder sich unterhalten will. So ist im Großen und Ganzen der Tagesablauf."

Seit 13 Jahren sieht für Dirk Z. jeder Tag so aus. Zu seiner Familie hat er noch Kontakt, viele Freundschaften sind jedoch eingeschlafen. Seinen Mitgefangenen geht es nicht anders. Schließlich sitzen die meisten von ihnen hier viele Jahre ab. So auch Joachim Bartsch, der seit 1998 in Werl ist. Der Grund: Banküberfall mit Sprengstoffeinsatz.

"Werl hat den Ruf, der letzte Punkt auf der Fahrbahn zu sein. So ist der Ruf in der Öffentlichkeit, so ist der Ruf bei anderen Anstalten. Damit hat man früher gedroht: Wenn du nicht auf Linie bleibst, dann geht es ab nach Werl!"

Und das seit nunmehr 100 Jahren. Es war im Sommer 1908, als das preußische Staatsgefängnis feierlich eingeweiht wurde. Ein wenig stolz ist JVA-Leiter Michael Skirl auf die lange Tradition seiner Anstalt:

"Die Justizvollzugsanstalt Werl ist eine der letzten aus einem – muss man sagen – gigantischen Bauprogramm der königlich-preußischen Justizverwaltung, das eingesetzt hat in den 1880er Jahren und gedauert hat bis etwa 1910 – die Anstalt hier 1906 bis 1908 gebaut – gedacht als Anstalt für die zunehmende Kriminalität und damit auch die zunehmenden Gefangenenzahlen aus dem Ruhrgebiet."

Für den damaligen Bürgermeister der Stadt, August Panning, ging ein Traum in Erfüllung. Schließlich hatte er mehr als fünf Jahre lang beim Regierungspräsidenten für den Standort Werl am Rande des Sauerlands geworben. Denn an seiner Stadt, die über Jahrhunderte von der Salzgewinnung gelebt hatte, war der Aufschwung der Industrialisierung bislang vorüber gegangen. Werl brauchte dringend Arbeitsplätze. Statt jedoch wie die Gemeinden im benachbarten Ruhrgebiet auf die Ansiedlung von Industrie zu setzen, hatte August Panning andere Pläne. Und so schrieb der Bürgermeister an den Regierungspräsidenten – der erste schriftliche Hinweis auf die Baupläne findet sich heute im Archiv der Stadt:
"Werl, den 8. Oktober 1901. Wie ich in Erfahrung gebracht habe, soll das alte Gerichtsgefängnis in Hamm abgebrochen werden. Die Neuerrichtung einer größeren der Neuzeit entsprechenden Anstalt soll zwar staatlicherseits in Aussicht genommen, jedoch der Ort, wo selbige erbaut werden soll – noch nicht bestimmt sein. Euer Hochwohlgeboren bitte gehorsamst, mir hochgeneigtest die Bedingungen, - die staatlicherseits eventuell an die Stadt gestellt werden, mitteilen lassen zu wollen, damit auch die Stadt Werl sich um diese Anstalt bewerben kann."

August Panning bekam den Zuschlag und verpflichtete sich im Gegenzug, die Straße vom Bahnhof zu dem vorgesehenen Gelände am Stadtrand zu pflastern, einen Gehweg anzulegen, Gas- und Wasserleitungen zu legen. 1906 begannen die Bauarbeiten – es waren Häftlinge aus umliegenden Strafanstalten, die den Rohbau fertig stellten. 1908 war das Gebäude bezugsfertig, berichtet JVA Leiter Skirl, der für die 100-Jahrfeier die Geschichte der Anstalt recherchiert hat.

"Das ist der klassische preußische Kreuzbau. Ein vierflügeliges Gebäude, dessen Flügel rechtwinklig zueinander stehen, also ein Kreuz bilden, in der Größenordnung von etwa 600 Gefangenen damals – mittlerer Kriminalität, also so drei bis sechs Jahre war damals die übliche Vollzugsdauer, zugeschnitten auf die damals typischerweise in diesem Industrieproletariat vorkommenden Straftaten. Das Vollzugsprinzip kann man zusammenfassen mit dem lateinischen Satz ‚ora et labora’ – bete und arbeite. Der Arbeitseinsatz wurde groß geschrieben und die Betreuung durch Geistliche stand im Vordergrund. Psychologen und Sozialarbeiter gab es damals noch nicht."

Die große Mehrheit – drei Viertel - der Häftlinge saß damals wegen Diebstahl ein. Die übrigen Delikte reichten von Betrug über "Sittlichkeitsverbrechen" wie Blutschande – Inzest -, Kuppelei und Zuhälterei bis hin zu Jagdvergehen, Haus- oder Landfriedensbruch. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten der Hochschulen eine Debatte über Strafmaße und Strafvollzug begonnen. 1871 war das Strafgesetzbuch in Kraft getreten, kurz darauf die Strafprozessordnung, die beide für das gesamte Deutsche Reich galten – ein Strafvollzugsgesetz gab es dagegen nicht. So blieb es den einzelnen Staaten überlassen, wie sie die Haft gestalteten. Einig sei man sich nur darin gewesen, dass ein Gefängnisaufenthalt die einzig wahre Form der Strafe sei, erläutert Professor Michael Walter vom kriminologischen Institut der Universität Köln.

"Man sah den Verbrecher als jemanden an, der nicht so entwickelt war wie es eigentlich ein guter gesunder Mensch ist. Man argwöhnte auch sehr schnell, dass es irgendwelche erblich bedingten oder jedenfalls körperlich fassbare Momente geben könnte, die den Menschen zum Verbrecher machten. Man unterschied zu damaliger Zeit im Anschluss an den sehr einflussreichen Strafrechtler und Kriminalpolitiker Franz von Liszt Gewohnheitsverbrecher von Gelegenheitsverbrechern. Bei diesen Gewohnheitsverbrechern hielt man eine sehr rigide lang dauernde Haft für das Richtige und den Gelegenheitsverbrecher wollte man abschrecken."

Dementsprechend rigide war der Alltag der Häftlinge. Frühmorgens rückten sie zur Arbeit aus – in die gefängniseigene Bäckerei, die Küche, die Wäscherei, die Matten- und Korbherstellung, die Schusterei oder auch in den landwirtschaftlichen Gutsbetrieb innerhalb und außerhalb der Anstaltsmauern. Die meisten Insassen arbeiteten auf ihren Zellen, streng isoliert von den anderen. Während der abendlichen Freistunde und während der Gottesdienste herrschte Schweigegebot. Nur alle vier Wochen durften sie einen Brief "nach draußen" schicken.

"Sehr strenge Disziplin bestand. Stramm stehen, Meldung machen. Bis heute sind viele Ausdrücke, die im Gefängniswesen gebräuchlich sind, dem Militärbereich entliehen. Zum Beispiel rücken die Gefangenen morgens zur Arbeit aus. Es gibt einen Appell, und zwar nach Körpergröße geordnet. Der Längste vorn, der Kürzeste hinten. Dann hat der vorne Meldung gegeben, wie viele Gefangene versammelt sind, und dann marschierte man los. Diese Dinge sind, wie wir heute wissen, nicht hilfreich für die Zeit nach der Entlassung, weil man in den Lebenskontexten, in denen man dann steht, relativ wenig anzufangen weiß."

Auch nach dem 1. Weltkrieg blieb zunächst alles beim Alten, nur die Zusammensetzung der Häftlinge veränderte sich. Erstmals kamen politische Gefangene nach Werl, die sich an der Novemberrevolution beteiligt oder für die Errichtung einer Räterepublik gekämpft hatten. Das noch aus der Kaiserzeit stammende Strafrecht erlaubte neben der Verhängung von Freiheitsstrafen für unerwünschte politische Betätigung auch die Anordnung von "Schutzhaft", eine Art vorbeugender Internierung. Eine Maßnahme, mit der sich die Betroffenen nicht einfach abfinden wollten. So schrieb der damalige Werler Gefängnisdirektor Christian Suffenplan am 15. Januar 1920 besorgt an seinen Vorgesetzten, den Oberstaatsanwalt in Hamm:

"In der letzten Zeit erklären die Schutzgefangenen offen, wenn sie nicht in kurzer Zeit entlassen würden, würden sie schon bald herausgeholt werden. Wenn auch die Erfahrung gelehrt hat, derartigen Äußerungen ein großer Wert nicht beizumessen ist, so erscheint mir doch, mit Rücksicht auf die politische Lage, Vorsicht am Platze… Euer Hochwohlgeborenen bitte ich daher, gehorsam zu berichten, dass das Wehrkreiskommando, solange es Schutzgefangene hier unterbringt, auch eine ausreichende Wache stellt. Mithin sind zur Verteidigung der Anstalt mindestens ein Offizier, einige Unteroffiziere und 30 Mann sowie drei bis vier Maschinengewehre erforderlich."

Zunächst bleib dieser Hilferuf jedoch ungehört. Erst als mehrere tausend Kommunisten und Spartakus-Bündler das Gefängnis belagerten und die Freigabe von 40 Insassen durchsetzten, schickte der Oberstaatsanwalt ein Infanterieregiment, das direkt im Gefängnis stationiert wurde. Die Lage beruhigte sich. Im Laufe der 20er Jahre lockerte sich dann der Strafvollzug. Denn in der Weimarer Republik setzte sich unter Rechtswissenschaftlern die Einsicht durch, dass Verbrechen nicht aufgrund genetischer Disposition begangen wurden. Vielmehr war es das soziale Umfeld, das eine entscheidende Rolle spielte, erklärt Professor Michael Walter:

"Als man dann die kaputten und nach Orientierung suchenden jungen Menschen sah, und als man auch die Armut sah, aus der zum Teil Diebstähle und andere Delikte begangen wurden, da wurde klar, dass das Gefängnis mit Einsperren und Haft keine ausreichende Antwort sein kann. Gerade bei jungen Menschen ist die Allgemeinheit am ehesten zu der Einsicht gelangt, dass es nicht nur der böse Wille dieser jungen Menschen ist, sondern dass auch andere Umstände gesellschaftlicher Art dazu beitragen, dass Menschen vom rechten Weg abkommen und Straftaten begehen."

Zunehmend rückte auch in Werl der Resozialisierungsgedanke in den Vordergrund: Gute Führung und Arbeitsleistungen wurden durch Freigang und Hafterleichterung belohnt. Doch diese Entspannungsphase währte nicht lange. Als 1933 die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, änderte sich auch in Werl der Ton. Getreu dem Leitspruch des Reichsministers der Justiz, Dr. Hans Frank, wurden die Gefangenen mit unnachgiebiger Härte behandelt:

"Der nationalsozialistische Staat verhandelt mit den Verbrechern nicht, er schlägt sie nieder!"

Zwei weitere Zellentrakte wurden errichtet, rund 2 000 Gefangene sollten in Werl Platz haben. Auf dem Gelände entstand eine Rüstungsfabrik, die Häftlinge waren billige Arbeitskräfte. Bald schon waren die Zellen überfüllt, berichtet der Leiter der Anstalt, Michael Skirl.

"Es wurde die Sicherungsverwahrung eingeführt, 1934 nämlich, das Institut der schuldunabhängigen Freiheitsentziehung wegen künftiger Gefährlichkeit, die es auch heute noch gibt, die wir auch noch vollstrecken. Es wurde aber auch mehr und mehr der Gefangene zur harten Arbeit eingesetzt, also eine Ausbeutung durch Arbeit fand statt, die Gefangenen wurden als billige Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie eingesetzt. Aber auch ganz wichtig: die politischen Strafgefangenen, sowohl die deutschen, als auch diejenigen, die damals als missliebige Bevölkerungsschichten angesehen wurden, also die Sinti und Roma, die Homosexuellen, alle Gruppen, die der Nationalsozialismus in der Gesellschaft verfolgte, die fanden sich dann auch in verstärktem Maß im Vollzug wieder, sodass sich der Charakter der Anstalt nachhaltig zum Negativen veränderte."

Die Anstaltsmauern wurden aufgestockt, Freistunde gab es fortan nur noch bei Tageslicht, SS-Truppen wurden zur Bewachung der Häftlinge abkommandiert. Als gegen Ende des Kriegs, am 22. April 1945, amerikanische Truppen die Haftanstalt besetzen, wurden sie von den Häftlingen laut jubelnd begrüßt. Der Leiter der JVA, Dr. Faber, hatte sich rechtzeitig abgesetzt. Über die weiteren Vorgänge im April 45 heißt es in einer Festschrift aus den 80er Jahren:

"Ein Amtmann, der den Amerikanern vor der Übergabe der Anstalt den "deutschen Gruß" entbot, erntete einen Schlag eines Soldaten, die Justizbeamten wurden entwaffnet und mussten in einer für die internationale Presse mehrfach zu wiederholende Prozedur ihre Schlüssel auf einen großen Haufen werfen. Die SS-Bewacher waren vor der Übergabe der Anstalt geflohen.
Die Gefangenen wurden entlassen, ein ehemaliger angeblich wegen mehrfachen Betrugs verurteilter Englisch sprechender Sicherungsverwahrter zum wesentlichsten Gesprächpartner der Amerikaner und entschied über Wohl und Wehe der gefangengenommenen Justizbeamten. Anstaltsleiter wurde wenige Tage nach der Befreiung der kanadische Major Porrier, der nach Durchsicht der Akten die meisten Beamten nach einigen Wochen wieder mit der Bewachung der alten und bald auch neuer Gefangener betraute."


Werl wurde, neben Wittlich, Landsberg und Berlin-Spandau, zum "Allied Prison" – zur Strafanstalt der Alliierten, in der neben "herkömmlichen" Gefangenen auch Kriegsverbrecher inhaftiert wurden. Der Bekannteste unter ihnen: Generalfeldmarschall Albert von Kesselring, während des Zweiten Weltkriegs Oberbefehlshaber der Deutschen Truppen in Italien. Ein britisches Militärgericht hatte ihn für mitschuldig an der Ermordung von 335 italienischen Geiseln im März 1944 befunden und verurteilte ihn zum Tode. Bereits im Juli 47 wurde die Strafe jedoch umgewandelt in lebenslängliche Haft. Zusammen mit einigen anderen einstigen NS-Generälen genoss von Kesselring in Werl eine Vorzugsbehandlung. Ihnen stand ein kasinoartiger Clubraum zur Verfügung, in dem sie sich nach dem Mittagessen ungestört unterhalten und rauchen durften – die Zigaretten lieferte ein US-Major Stangen weise. Der Leiter der Anstalt, Oberstleutnant Vickers, lud die Herren regelmäßig zum Tee in seine Dienstvilla. Statt wie die anderen Gefangenen in den Anstaltsbetrieben zu schuften, durften sie sich im "Generalsgarten" der Tomatenzucht widmen. Einige wohl gesonnene Aufseher steckten ihnen Zigaretten und Obst zu. Wofür sich die Generäle dann auch bei einem von ihnen, Bernhard Melchers, mit einem "Poesiealbum" bedankten, das heute im Werler Stadtarchiv zu finden ist.

"Der bloß niedergeworfene Gegner kann wieder aufstehen, nur der versöhnte Feind ist wahrhaft überwunden! – Immanuel Kant.
Werl, den 7. März 1952, Simon, Generalleutnant der Waffen-SS."


"Werl, 6. März 1952.
Einem alten Soldaten geziemt es, nach einem alten Schwertspruch zu leben:
In allem Tun und Lassen frei,
bitt Gott, dass er dein Helfer sei!
Kesselring, Generalfeldmarschall"


Kurze Zeit später wurde von Kesselring begnadigt und besorgte einem seiner ehemaligen Aufseher einen Job, nachdem der in Werl entlassen worden war – wegen Fraternisierung. 1954 wurde die Justizvollzugsanstalt den deutschen Behörden überstellt. Bis weit in die 60er Jahre war das Gefängnis völlig überfüllt. Statt 1000 Insassen, die es aufnehmen konnte, befanden sich in den kleinen Zellen fast 1800 Gefangene. Noch immer herrschte militärischer Drill, weiß Joachim Bartsch, der Ende der 60er Jahren schon einmal in Werl gesessen hat.

"Wenn ein Beamter zur Tür rein kam, hatte der Insasse aufzustehen, auch wenn er gerade auf dem Bett lag, wo er gerade war, ans Fenster zurück zu treten, zu sagen: ‚Haftraum Nummer so und so, belegt mit einem oder zwei Gefangenen, noch drei Jahre zu verbüßen. Das war natürlich sehr entwürdigend."

Die Überbelegung der Anstalt endete erst 1967. Damals erklärte das Oberlandesgericht, dass das Einpferchen von drei Gefangenen auf einer Einzelzelle gegen die Menschenwürde verstoße. Auch der Haftalltag änderte sich, sogar Sportgruppen wurden gegründet. Doch erst 1977 wurde mit dem Strafvollzugsgesetz die rechtliche Grundlage für eine tief greifende Reform des Haftalltags geschaffen, erklärt der Kriminologe Professor Michael Walter:

"Das war Bahn brechend, indem es erst einmal klar gelegt hat, dass es nicht eine ganze Fülle von Vollzugszielen gibt, sondern es gibt nur ein Vollzugsziel, und das ist die Wiedereingliederung des Gefangenen in die Gesellschaft, oder wie es das Gesetz ausdrückt, die Gefangenen zu befähigen, ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen."

Seitdem hat sich auch der Charakter der JVA gewandelt. Es gibt Wohngruppenvollzug, Langzeitbesuche für Familienangehörige, Therapieangebote, Schuldnerberatung, Schulbildung für alle, die Interesse haben. Der ehemalige Sprengmeister Joachim Bartsch hat während seiner Haft ein Fernstudium in Journalistik absolviert und ist jetzt hauptamtlicher Redakteur der Anstaltszeitung "Hauspost". Sein ganz persönlicher Blick auf Werl:

"Für einfach Knast zu machen, meine Zeit abzuschieben, gibt es kaum eine bessere Haftanstalt, außer dem wirklich offenen Vollzug, als so ein Haus, das muss ich wirklich sagen. Sie werden überall bevormundet, überall gibt es eine Hausordnung, überall müssen Sie sich fügen. Aber wenn Sie dieses Regelwerk internalisieren und sagen, okay, ich habe jetzt fünf Jahre, wenn ich hier glatt durchlaufen will, dann können Sie hier einen lockeren Knast machen, für sich ohne Stress. Es nimmt Ihnen keiner die Strafe und die Zeit ab, aber es tut Ihnen auch niemand was."

Wie lange er noch sitzen muss, weiß Joachim Bartsch nicht. Zunächst einmal hofft er, dass für ihn die Sicherheitsverwahrung endet. Dann will er nur noch eins: für immer raus.

"Nie mehr hier reinkommen. Ich bin zu alt, ich will hier drin nicht sterben. Das wäre jetzt das Fazit. Bei noch einem Mal, egal was, hier drin kann ich mir meinen Zinksarg gleich mitnehmen. Das wär’s also: Nie mehr hier rein kommen, und die Jahre, die einem noch verbleiben, hoffentlich noch lange, in unserer Familie werden sie alle 100, hoffe ich, dass ich das auch schaffe, und dann nicht mehr Knast. Ich kann es nicht mehr sehen und nicht mehr hören!"