Knigge: Erinnerung der KZ-Häftlinge macht die Geschichte "sehr plastisch"
Erinnerungen von überlebenden Zeitzeugen seien eine wichtige, wenngleich nicht die einzige Form der Überlieferung des Grauens in den NS-Lagern, sagt Volkhard Knigge, Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald.
Ulrike Timm: Am kommenden Wochenende wird der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald durch die Alliierten vor 65 Jahren gedacht. Die wenigen Überlebenden, die daran noch teilnehmen können, waren damals Kinder. Die Rettung der Kinder, darauf soll dann auch besonders der Blick gerichtet werden in diesem Jahr. Wie soll unser Gedenken sein, und wie wird es sich verändern, wenn bald keine Überlebenden mehr da sind, die erzählen können und die persönlich Mahnung sind.
Wenigstens die Kinder müssen gerettet werden, wenigstens sie. Das sagten sich viele der Erwachsenen im Konzentrationslager Buchenwald und bemühten sich, diese Kinder wenn irgend möglich zu beschützen. 904 Kinder waren unter den rund 21.000 Menschen, die die Alliierten vor 65 Jahren in Buchenwald befreiten. Heute sind sie alte Männer und Frauen und die Letzten, die als Zeitzeugen erzählen können. Ihnen besonders gelten die Gedenkveranstaltungen in Buchenwald in diesen Tagen. Volkhard Knigge ist Leiter der Gedenkstätte. Guten Morgen!
Volkhard Knigge: Ja, guten Morgen, Frau Timm!
Timm: Herr Knigge, wie viele Zeitzeugen haben Sie überhaupt noch einladen können und wie viele von denen haben die Einladung dann auch annehmen mögen?
Knigge: Also es werden etwa 120 kommen, darunter 50 dieser ehemaligen Kinder, aber auch noch etwa 50 andere Überlebende des Lagers und gut 20, knapp 20 ehemalige Veteranen der Dritten US-Armee.
Timm: Wie spiegelt sich denn dieser Schwerpunkt, die Rettung der Kinder, in den Gedenkfeierlichkeiten wider?
Knigge: Zum einen, indem wir mit einer neuen Form, nämlich einer Audioinstallation den historischen Ort selbst zum Sprechen bringen, den Schauplätzen die Stimme der Überlebenden geben. Das heißt, am Block 8 oder im kleinen Lager oder am Block 66, wo diese Kinder untergebracht und geschützt worden sind zwischen 1933 und 45, werden Zeitzeugeninterviews, die zum Teil wirkliche Schätze sind, weil sie schon 1946 gemacht worden sind, also ganz nah an diesem Höllensturz dran, dort werden diese Zeitzeugenberichte zu hören sein in einer Audioinstallation. Aber es wird natürlich auch noch einmal viele Begegnungen zwischen jungen Leuten aus ganz Thüringen und diesen wunderbaren Menschen geben.
Timm: Es kommt zu Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen im Hotel Elephant in Weimar. Dieses Hotel war ein Ort, den Hitler sehr schätzte. Warum gerade da?
Knigge: Ja, es war Hitlers Heimstatt in Weimar, das Hotel ist nach seinen Plänen gebaut worden, es sollte auch die Leistungsfähigkeit und Modernität der rassistisch konstruierten deutschen Volksgemeinschaft international unter Beweis stellen. Unser Thema ist neben der Rettung der Kinder auch mitten im deutschen Volk ein Satz und eine Diagnose des ehemaligen Buchenwald-Häftlings Jean Améry. Die Verbrechen haben sich mitten im deutschen Volk vorbereitet und zu einem großen Teil auch abgespielt, heute mitten im deutschen Volk die Auseinandersetzung, die Vermächtnisübernahme, sozusagen das Gegen-den-Strich-Bürsten dieser negativen Geschichte auf Besseres hin, auf historische Vernunft hin, auf mitmenschliches Geschichtsbewusstsein hin.
Timm: Mussten Sie diesen Ort denn vor den Opfern, mussten Sie da Überzeugungsarbeit leisten oder haben die gleich gesagt, für uns ist es auch ein Ort, an dem wir zeigen können, wir haben es überlebt?
Knigge: Natürlich. Also wir arbeiten lange mit dem Hotel Elephant zusammen, es ist nicht die erste Begegnung dort. Ich erinnere immer Jorge Semprún 1995, als ich ihn fragte, Jorge, kann ich mit dir dort essen gehen, und er sagte: Mach dir keine Sorgen, Hitler ist tot, wir leben noch, und ich habe gehört, der Koch ist gut. Und man kann sich das ja auch gut vorstellen, was das für ein Gefühl ist, an einem Ort, der dem Führer und der Volksgemeinschaft vorbehalten sein sollte, den man nie hätte betreten sollen, das Hotel Elephant für die Herrenmenschen, das Lager für die angeblichen Untermenschen, so war ja das Weltbild der Nationalsozialisten, dort den zweiten Geburtstag – und dafür steht der Befreiungstag ja – zu feiern. Das ist etwas ganz Unglaubliches. Es geht hier also nicht um ein vordergründiges Symbol, sondern wirklich um dieses Das-Negative-gegen-den-Strich-Bürsten und Funken für eine humane Zukunft daraus schlagen und das nun wieder mitten im deutschen Volk.
Timm: Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún, der mit Ihnen im Hotel Elephant schon mal gegessen hat, ist auch prominentester Besucher der Gedenkfeierlichkeiten in diesem Jahr, Jahrgang 23, und Jorge Semprún kam als Widerstandskämpfer ins Lager, war bei der Résistance. Machte das eigentlich einen Unterschied, ob man als Politischer, als Jude oder Homosexueller im KZ war, oder machte die in den Arm tätowierte Nummer alle sofort gleich?
Knigge: Es macht zum einen einen großen Unterschied, weil politisch oder religiös verfolgte Menschen sich noch erklären konnten, warum sie verfolgt wurden. Das war ja fast eine klassische Form der Verfolgung. Sie waren Gegner des Nationalsozialismus, also rechneten sie mit Konsequenzen. Rassisch begründetes Verstoßen aus jedem Lebensrecht, aus jedem Menschsein war eine ganz neue Erfahrung, und die ist natürlich sehr, sehr viel schwieriger zu erklären, weil man eigentlich keinen, überhaupt gar keinen Sinn mehr darin sehen kann, warum schon etwa ein jüdisches, sogar ungeborenes Kind möglicherweise überhaupt kein Lebensrecht hat. Es ist also ungleich schwieriger, diese Verletzung der Menschlichkeit und der Menschenwürde zu erinnern, und dann spielt natürlich auch im Lager durch die von der SS geschaffene Hierarchie und die Situation im Lager spielt es eine Rolle, wo man platziert ist. Es wirkt sich auf die Überlebenschancen natürlich aus, und umso wichtiger, dass politische Häftlinge sich dafür entscheiden, diese Kinder, die ja auch in der Sicht der SS für nichts nutze sind – Kinder und Zwangsarbeit, dreijährige Kinder und Zwangsarbeit, was für eine irrsinnige Vorstellung –, dass sie sich entscheiden, diese Kinder zu schützen, das ist so ein wichtiges Signal. Es war auch der Wunsch der Überlebenden, das in den Mittelpunkt zu stellen, um sehr deutlich zu machen, Menschen können mitmenschlich und solidarisch handeln, selbst unter furchtbaren Umständen, wenn sie die richtigen Grundeinstellungen mitbringen. Und das scheint mir doch eine ganz wichtige Botschaft auch für die Zukunft zu sein. Wir beobachten ja auch in der Gegenwart durchaus Revitalisierungen sozial-darwinistischen Denkens oder von Hardcore-Egoismus, und so gesehen hilft uns diese Geschichte, uns zu orientieren.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Volkhard Knigge, dem Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, anlässlich der Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers. Herr Knigge, Sie haben selbst gesagt, das wird wohl die letzte mögliche große Begegnung mit Überlebenden sein, es sind sehr alte Menschen, die in den nächsten Tagen zu Besuch sein werden. Wie wird sich denn das Gedenken verändern, wenn die Überlebenden nicht mehr sind?
Knigge: Wir werden zum einen begreifen müssen, dass Erinnerung nur eine Form der Überlieferung ist, wenn auch eine ganz besondere. Die Erinnerung der Häftlinge berührt wie nichts anderes, sie macht diese Geschichte, diesen Höllensturz im Einzelschicksal sehr plastisch, und Überlebende haben immer auch interveniert öffentlich, wenn Erinnerung schief gestellt zu werden drohte. Das werden wir verlieren, das wird uns fehlen. Andererseits bleibt uns aber das Vermächtnis der Überlebenden, bleiben uns die aufgezeichneten und gesammelten Zeugenaussagen, bleiben uns viele andere Formen der Überlieferung, Objekte aus den Lagern, Dokumente, Texte, Bilder, Zeichnungen, sogar Kunstwerke, die illegal entstanden sind. Gedenkstätten stellen sich seit über zehn Jahren darauf ein, sich selber als moderne zeithistorische Museen auszuprägen, in denen Geschichte allerdings nicht tot gestellt oder begraben werden soll, sondern die forschendes, entdeckendes Lernen ermöglichen, die nicht immer nur mit dem moralischen Zeigefinger wedeln und die so gesehen ja lebendige Lernorte sind, in denen sich Lernen und Gedenken miteinander verschränkt an all dem, was uns überliefert worden ist. Und es ist an uns dann, diesen Schatz und dieses Vermächtnis weiterhin ernst zu nehmen. Dieses Ernstnehmen wird uns ja nicht dadurch genommen, dass uns diese Menschen leider Gottes verlassen.
Timm: Die früheren KZs sind heute Orte der Erinnerung und Orte der Information. Da wird man vielleicht die Informationen in Zukunft noch stärker gewichten müssen, auch der jungen Generation gegenüber?
Knigge: Ja, wie gesagt, wir verstehen uns als moderne zeithistorische Museen, die eine spezifische Form historisch, politisch-historisch ethischer Bildung entwickeln. Das heißt auch, dass wir im Gegensatz zu anderen Museen nicht vergessen machen wollen, dass sich diese Museen an Tat- und Leidensorten befinden und dass sie ja nach wie vor humanitäre Aufgaben haben, auch gegenüber den Angehörigen der dritten und vierten Generation. Das heißt aber auch, dass wir unsere Archive, dass wir unsere Sammlungen öffnen, dass wir sozusagen wirkliche Laboratorien für Demokratie lernen werden, in denen man mit Herz und Verstand an der Überlieferung, die dort gesammelt ist, wirklich arbeiten und sich mit der Vergangenheit auf eine bessere Zukunft hin auseinandersetzen kann, und das, wie gesagt, nicht politisch bevormundet, nicht mit dem moralischen Zeigefinger angetrieben, sondern eingeladen, historische Neugier zu entwickeln und selber aus den Brennpunkten, aus den Schwierigkeiten der eigenen Gegenwart Fragen an die Vergangenheit zu entwickeln, die uns helfen, besser zu leben.
Timm: Viele beklagen, dass über den Holocaust in den Schulen nicht mehr genug gesprochen wird. Sie haben ganz viele Besuchergruppen, wie erleben Sie das, Herr Knigge, sind die Jugendlichen in gutem Sinne unbefangener als die Tätergeneration und die Nachfolge, oder sind sie bloß unbeleckt?
Knigge: Es gibt beides. Es gibt die sehr, sehr Unbeleckten, weshalb wir ja auch immer sagen, Gedenken braucht Wissen, sonst wird es schnell zu Manipulation, das lehrt uns ja auch die Geschichte der DDR, und sie sind aber auch unbefangen, weil es geht ja nicht um Schuldverschreibung, sondern es geht darum, an dieser negativen Überlieferung zu lernen, anders zu handeln, und das sehr konkret und das auf das eigene bessere Leben hin. Und deswegen ist Unbefangenheit erlaubt. Zur modernen Pädagogik gehört auch, dass alle Fragen erlaubt sind – für Jugendliche liegt das sehr weit zurück –, und dass es wirklich wichtig ist, sich mit der Überlieferung selber persönlich mit den Dokumenten, mit den Zeugnissen in der Hand beschäftigen zu können. Und natürlich nehmen wir ernst, dass übermoralisierende Pädagogik auch ganz negative Folgen zeitigen kann. Das haben wir auch, Jugendliche wachsen heute durchaus in einer Zeit auf, in der es sozusagen ein Dauervergangenheitsgerede gibt, das nicht immer auf höchstem Niveau stattfindet.
Timm: Volkhard Knigge, der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald. Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Knigge: Gern geschehen, danke!
Wenigstens die Kinder müssen gerettet werden, wenigstens sie. Das sagten sich viele der Erwachsenen im Konzentrationslager Buchenwald und bemühten sich, diese Kinder wenn irgend möglich zu beschützen. 904 Kinder waren unter den rund 21.000 Menschen, die die Alliierten vor 65 Jahren in Buchenwald befreiten. Heute sind sie alte Männer und Frauen und die Letzten, die als Zeitzeugen erzählen können. Ihnen besonders gelten die Gedenkveranstaltungen in Buchenwald in diesen Tagen. Volkhard Knigge ist Leiter der Gedenkstätte. Guten Morgen!
Volkhard Knigge: Ja, guten Morgen, Frau Timm!
Timm: Herr Knigge, wie viele Zeitzeugen haben Sie überhaupt noch einladen können und wie viele von denen haben die Einladung dann auch annehmen mögen?
Knigge: Also es werden etwa 120 kommen, darunter 50 dieser ehemaligen Kinder, aber auch noch etwa 50 andere Überlebende des Lagers und gut 20, knapp 20 ehemalige Veteranen der Dritten US-Armee.
Timm: Wie spiegelt sich denn dieser Schwerpunkt, die Rettung der Kinder, in den Gedenkfeierlichkeiten wider?
Knigge: Zum einen, indem wir mit einer neuen Form, nämlich einer Audioinstallation den historischen Ort selbst zum Sprechen bringen, den Schauplätzen die Stimme der Überlebenden geben. Das heißt, am Block 8 oder im kleinen Lager oder am Block 66, wo diese Kinder untergebracht und geschützt worden sind zwischen 1933 und 45, werden Zeitzeugeninterviews, die zum Teil wirkliche Schätze sind, weil sie schon 1946 gemacht worden sind, also ganz nah an diesem Höllensturz dran, dort werden diese Zeitzeugenberichte zu hören sein in einer Audioinstallation. Aber es wird natürlich auch noch einmal viele Begegnungen zwischen jungen Leuten aus ganz Thüringen und diesen wunderbaren Menschen geben.
Timm: Es kommt zu Begegnungen mit ehemaligen Häftlingen im Hotel Elephant in Weimar. Dieses Hotel war ein Ort, den Hitler sehr schätzte. Warum gerade da?
Knigge: Ja, es war Hitlers Heimstatt in Weimar, das Hotel ist nach seinen Plänen gebaut worden, es sollte auch die Leistungsfähigkeit und Modernität der rassistisch konstruierten deutschen Volksgemeinschaft international unter Beweis stellen. Unser Thema ist neben der Rettung der Kinder auch mitten im deutschen Volk ein Satz und eine Diagnose des ehemaligen Buchenwald-Häftlings Jean Améry. Die Verbrechen haben sich mitten im deutschen Volk vorbereitet und zu einem großen Teil auch abgespielt, heute mitten im deutschen Volk die Auseinandersetzung, die Vermächtnisübernahme, sozusagen das Gegen-den-Strich-Bürsten dieser negativen Geschichte auf Besseres hin, auf historische Vernunft hin, auf mitmenschliches Geschichtsbewusstsein hin.
Timm: Mussten Sie diesen Ort denn vor den Opfern, mussten Sie da Überzeugungsarbeit leisten oder haben die gleich gesagt, für uns ist es auch ein Ort, an dem wir zeigen können, wir haben es überlebt?
Knigge: Natürlich. Also wir arbeiten lange mit dem Hotel Elephant zusammen, es ist nicht die erste Begegnung dort. Ich erinnere immer Jorge Semprún 1995, als ich ihn fragte, Jorge, kann ich mit dir dort essen gehen, und er sagte: Mach dir keine Sorgen, Hitler ist tot, wir leben noch, und ich habe gehört, der Koch ist gut. Und man kann sich das ja auch gut vorstellen, was das für ein Gefühl ist, an einem Ort, der dem Führer und der Volksgemeinschaft vorbehalten sein sollte, den man nie hätte betreten sollen, das Hotel Elephant für die Herrenmenschen, das Lager für die angeblichen Untermenschen, so war ja das Weltbild der Nationalsozialisten, dort den zweiten Geburtstag – und dafür steht der Befreiungstag ja – zu feiern. Das ist etwas ganz Unglaubliches. Es geht hier also nicht um ein vordergründiges Symbol, sondern wirklich um dieses Das-Negative-gegen-den-Strich-Bürsten und Funken für eine humane Zukunft daraus schlagen und das nun wieder mitten im deutschen Volk.
Timm: Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún, der mit Ihnen im Hotel Elephant schon mal gegessen hat, ist auch prominentester Besucher der Gedenkfeierlichkeiten in diesem Jahr, Jahrgang 23, und Jorge Semprún kam als Widerstandskämpfer ins Lager, war bei der Résistance. Machte das eigentlich einen Unterschied, ob man als Politischer, als Jude oder Homosexueller im KZ war, oder machte die in den Arm tätowierte Nummer alle sofort gleich?
Knigge: Es macht zum einen einen großen Unterschied, weil politisch oder religiös verfolgte Menschen sich noch erklären konnten, warum sie verfolgt wurden. Das war ja fast eine klassische Form der Verfolgung. Sie waren Gegner des Nationalsozialismus, also rechneten sie mit Konsequenzen. Rassisch begründetes Verstoßen aus jedem Lebensrecht, aus jedem Menschsein war eine ganz neue Erfahrung, und die ist natürlich sehr, sehr viel schwieriger zu erklären, weil man eigentlich keinen, überhaupt gar keinen Sinn mehr darin sehen kann, warum schon etwa ein jüdisches, sogar ungeborenes Kind möglicherweise überhaupt kein Lebensrecht hat. Es ist also ungleich schwieriger, diese Verletzung der Menschlichkeit und der Menschenwürde zu erinnern, und dann spielt natürlich auch im Lager durch die von der SS geschaffene Hierarchie und die Situation im Lager spielt es eine Rolle, wo man platziert ist. Es wirkt sich auf die Überlebenschancen natürlich aus, und umso wichtiger, dass politische Häftlinge sich dafür entscheiden, diese Kinder, die ja auch in der Sicht der SS für nichts nutze sind – Kinder und Zwangsarbeit, dreijährige Kinder und Zwangsarbeit, was für eine irrsinnige Vorstellung –, dass sie sich entscheiden, diese Kinder zu schützen, das ist so ein wichtiges Signal. Es war auch der Wunsch der Überlebenden, das in den Mittelpunkt zu stellen, um sehr deutlich zu machen, Menschen können mitmenschlich und solidarisch handeln, selbst unter furchtbaren Umständen, wenn sie die richtigen Grundeinstellungen mitbringen. Und das scheint mir doch eine ganz wichtige Botschaft auch für die Zukunft zu sein. Wir beobachten ja auch in der Gegenwart durchaus Revitalisierungen sozial-darwinistischen Denkens oder von Hardcore-Egoismus, und so gesehen hilft uns diese Geschichte, uns zu orientieren.
Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Volkhard Knigge, dem Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, anlässlich der Feierlichkeiten zum 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers. Herr Knigge, Sie haben selbst gesagt, das wird wohl die letzte mögliche große Begegnung mit Überlebenden sein, es sind sehr alte Menschen, die in den nächsten Tagen zu Besuch sein werden. Wie wird sich denn das Gedenken verändern, wenn die Überlebenden nicht mehr sind?
Knigge: Wir werden zum einen begreifen müssen, dass Erinnerung nur eine Form der Überlieferung ist, wenn auch eine ganz besondere. Die Erinnerung der Häftlinge berührt wie nichts anderes, sie macht diese Geschichte, diesen Höllensturz im Einzelschicksal sehr plastisch, und Überlebende haben immer auch interveniert öffentlich, wenn Erinnerung schief gestellt zu werden drohte. Das werden wir verlieren, das wird uns fehlen. Andererseits bleibt uns aber das Vermächtnis der Überlebenden, bleiben uns die aufgezeichneten und gesammelten Zeugenaussagen, bleiben uns viele andere Formen der Überlieferung, Objekte aus den Lagern, Dokumente, Texte, Bilder, Zeichnungen, sogar Kunstwerke, die illegal entstanden sind. Gedenkstätten stellen sich seit über zehn Jahren darauf ein, sich selber als moderne zeithistorische Museen auszuprägen, in denen Geschichte allerdings nicht tot gestellt oder begraben werden soll, sondern die forschendes, entdeckendes Lernen ermöglichen, die nicht immer nur mit dem moralischen Zeigefinger wedeln und die so gesehen ja lebendige Lernorte sind, in denen sich Lernen und Gedenken miteinander verschränkt an all dem, was uns überliefert worden ist. Und es ist an uns dann, diesen Schatz und dieses Vermächtnis weiterhin ernst zu nehmen. Dieses Ernstnehmen wird uns ja nicht dadurch genommen, dass uns diese Menschen leider Gottes verlassen.
Timm: Die früheren KZs sind heute Orte der Erinnerung und Orte der Information. Da wird man vielleicht die Informationen in Zukunft noch stärker gewichten müssen, auch der jungen Generation gegenüber?
Knigge: Ja, wie gesagt, wir verstehen uns als moderne zeithistorische Museen, die eine spezifische Form historisch, politisch-historisch ethischer Bildung entwickeln. Das heißt auch, dass wir im Gegensatz zu anderen Museen nicht vergessen machen wollen, dass sich diese Museen an Tat- und Leidensorten befinden und dass sie ja nach wie vor humanitäre Aufgaben haben, auch gegenüber den Angehörigen der dritten und vierten Generation. Das heißt aber auch, dass wir unsere Archive, dass wir unsere Sammlungen öffnen, dass wir sozusagen wirkliche Laboratorien für Demokratie lernen werden, in denen man mit Herz und Verstand an der Überlieferung, die dort gesammelt ist, wirklich arbeiten und sich mit der Vergangenheit auf eine bessere Zukunft hin auseinandersetzen kann, und das, wie gesagt, nicht politisch bevormundet, nicht mit dem moralischen Zeigefinger angetrieben, sondern eingeladen, historische Neugier zu entwickeln und selber aus den Brennpunkten, aus den Schwierigkeiten der eigenen Gegenwart Fragen an die Vergangenheit zu entwickeln, die uns helfen, besser zu leben.
Timm: Viele beklagen, dass über den Holocaust in den Schulen nicht mehr genug gesprochen wird. Sie haben ganz viele Besuchergruppen, wie erleben Sie das, Herr Knigge, sind die Jugendlichen in gutem Sinne unbefangener als die Tätergeneration und die Nachfolge, oder sind sie bloß unbeleckt?
Knigge: Es gibt beides. Es gibt die sehr, sehr Unbeleckten, weshalb wir ja auch immer sagen, Gedenken braucht Wissen, sonst wird es schnell zu Manipulation, das lehrt uns ja auch die Geschichte der DDR, und sie sind aber auch unbefangen, weil es geht ja nicht um Schuldverschreibung, sondern es geht darum, an dieser negativen Überlieferung zu lernen, anders zu handeln, und das sehr konkret und das auf das eigene bessere Leben hin. Und deswegen ist Unbefangenheit erlaubt. Zur modernen Pädagogik gehört auch, dass alle Fragen erlaubt sind – für Jugendliche liegt das sehr weit zurück –, und dass es wirklich wichtig ist, sich mit der Überlieferung selber persönlich mit den Dokumenten, mit den Zeugnissen in der Hand beschäftigen zu können. Und natürlich nehmen wir ernst, dass übermoralisierende Pädagogik auch ganz negative Folgen zeitigen kann. Das haben wir auch, Jugendliche wachsen heute durchaus in einer Zeit auf, in der es sozusagen ein Dauervergangenheitsgerede gibt, das nicht immer auf höchstem Niveau stattfindet.
Timm: Volkhard Knigge, der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald. Herzlichen Dank fürs Gespräch!
Knigge: Gern geschehen, danke!