Knochen als Verbindung zu den Vorfahren

Von Tobias Wenzel |
Neuseeland ist das Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Die bekannteste Autorin des Landes fehlt allerdings. Die 65-jährige Keri Hulme verlässt ihre Heimat schon seit Jahren nicht mehr. Wir haben die von den Maori abstammende Schriftstellerin in Neuseeland besucht.
"Steinfisch

'Ich habe einen Stein der einst
alte Meere durchschwamm' - er liegt
großäugig, Kiemen aufgerissen
dünn wie Firnis auf dem Schiefer [...]"


Nicht nur in der Fantasie der neuseeländischen Eingeborenen lebt ein wundersamer Fisch. Auch in Keri Hulmes Auto. Ein Fisch als Knauf eines Spazierstockes. Der liegt, ebenso wie ein lebendiger schweigsamer weißer Schoßhund zwischen unzähligen bis zur Decke gestapelten Kisten. Eine kurios-chaotische Wunderkammer auf Rädern. Am Steuer: Keri Hulme, schlabbrige Jogginghose, orange getönte Sonnenbrille, die grauen lockigen Haare in ein Schwänzchen mündend, wie es kleine Jungs manchmal tragen.

Die Scheibenwischer kämpfen gegen die ersten Regentropfen des Tages. Egal. Selbst der sich verdüsternde Himmel über dieser malerisch geschwungenen Landschaft wirkt mit seinen spektakulären Wolken umwerfend schön.

Keri Hulme: "Er ist mir sehr vertraut, der Himmel. Aber es ist mit ihm wie mit dem Meer: Man sieht niemals dasselbe. Ich genieße den Himmel so wie das Land überhaupt, auch wenn Menschen in diesem Land viel zerstört haben."

Keri Hulme ist eine intime Kennerin der Geschichte Neuseelands und der Flora und Fauna. Seit 1998 hat sie das Land nicht mehr verlassen, schreibt lieber in aller Ruhe Gedichte und Erzählungen. Sie ist auf dem Weg nach Moeraki, ein Küstendorf, in dem sie als Kind viel Zeit verbrachte.

"Hier gibt es jetzt viele Touristen. Leider habe ich dazu beigetragen."

In einer für diese Gegend typischen Strandhütte hat Keri Hulme ihren Roman "Unter dem Tagmond" geschrieben. Und vor dieser Hütte macht die 65-Jährige nun kurz halt. Unweit davon, auf einem Stück Gras, liegt ein Seehund.

"Dem geht's bestimmt nicht gut. Sonst hätte er nicht den Strand verlassen."

"Interessanterweise hatten die Hütten keine Hausnummern. Man nannte sie einfach nach den Familien, denen sie gehörten. Jetzt haben sie aber Hausnummern angebracht. 84 ist auch die Nummer bei mir Zuhause. Wir hatten lange keine Hausnummern, bis meine Mutter einmal sehr krank wurde, wir den Krankenwagen riefen, der aber unser Haus nicht finden konnte."

Mütterlicherseits stammt Keri Hulme von den Maori ab, also den Eingeborenen Neuseelands. Geboren wurde sie 1947 in Christchurch.

"Leider starb mein Vater, als ich erst 11 war. Aber seine Familie - er war Engländer - war der Meinung, es wäre nicht gut für mich als Kind, einen Menschen im Sarg zu sehen. Deshalb habe ich zum ersten Mal einen toten Menschen gesehen, als ein Schulfreund starb, kurz bevor ich das Gymnasium verließ, als ich 18 war."

Keri Hulme musste ihr Jura-Studium aus Geldmangel abbrechen. Sie arbeitete als Tabakpflückerin und Postangestellte, war Köchin und Bauarbeiterin. Mit 25 zog sie in ein einsames Haus an der Westküste des Landes, um zu fischen, zu schreiben und zu malen. Das alles tut sie heute noch. Als asexuelle Frau, wie sie sich selbst nennt, genießt sie das Leben auf ihre Art. Und wenn das Leben vielleicht irgendwann doch keinen Spaß mehr macht?

"Wenn das mal passieren sollte, würde ich einfach dafür sorgen, dass ich tot bin. Unter meinen Maori-Vorfahren war Selbstmord recht üblich. Zum Beispiel nahmen sich Frauen nach dem Tod des Ehemanns das Leben. Wenn das Leben keine Freude mehr macht: Abgang!"

Keri Hulme sagt, was sie denkt. Egal, was andere davon halten. Sie lehnt eine Serviette ab, um sich dann die fettigen Fish-and-Chips-Finger genüsslich am Pullover abzuwischen. Im Internet hat sie ihr eigenes Buch "Steinfisch" bewertet, mit nur vier von fünf möglichen Sternen. Begründung: Niemand und nichts sei perfekt, also auch ihr Buch "Steinfisch" nicht.

"[...] du lächelst über meine Steine
aber ich murmle Opale, du
sagst Ahnen und ich hauche:
Knochen -"


Keri Hulme trägt eine Kette mit einem aus Walknochen geschnitzten Anhänger. Für die eigenbrödlerische Neuseeländerin sind auch Menschenknochen von großer Bedeutung, als Brücke zu den Vorfahren.

"Früher war es nichts Ungewöhnliches, am Körper Knochen oder Zähne toter Verwandter zu tragen oder der Feinde. Walknochen galten als Geschenk von Takaroa, dem Gott des Meeres. Um sich dankbar zu zeigen, verarbeitete man jedes noch so kleine Stück Walknochen."
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