Koalitionsverhandlungen

Alternativen zum Mindestlohn

Von Christoph Giesa |
Der Publizist Christoph Giesa hält ein Bürgergeld oder ein bedingungsloses Grundeinkommen für hilfreicher als den gesetzlichen Mindestlohn, um zu geeigneten Lohnabschlüssen zu kommen. Denn das mache das Arbeiten zu Hungerlöhnen unattraktiv - ohne an der Autonomie der Tarifpartner zu rütteln.
Die Zahl der Geschichten rund um Tarifverhandlungen ist groß. Vor allem in den wilden 70ern gab es nichts, was es nicht gab. Manche Runde der Arbeitgeber mit den Arbeitnehmern musste von der Polizei geschützt werden. Streiktage erreichten heute unvorstellbare Höhen. Und auch innerhalb der Verbände ging es heiß her. So wurden Gewerkschaftsfunktionäre schon mal von den eigenen Leuten mit Hausverboten belegt und über Nacht die Schlösser ausgetauscht.
Mit solch heftigen Auseinandersetzungen wird man immer weniger rechnen müssen. Die neue schwarz-rote Koalition will einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn einführen. Und damit nimmt sie den Tarifpartnern eine ihre wichtigsten Aufgaben ab, nämlich quer durchs Land von Branche zu Branche und von Tarifgebiet zur Tarifgebiet unterschiedliche Lohnuntergrenzen zu definieren.
Unbestritten, mit diesem Schritt wird der Gesetzgeber zumindest kurzfristig das ärgerliche Problem lösen, dass fleißige, engagierte Menschen mit Niedrigstlöhnen abgespeist werden, die nichts mit der Produktivität ihrer Arbeit zu tun haben, sondern deswegen zustande kommen, weil sie in der falschen Branche oder der falschen Region arbeiten. Doch gleichzeitig wird die Tarifautonomie, bestehend aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, langfristig geschwächt. Das sollte uns allen Sorgen bereiten.
Denn diese Tarifautonomie, das wird gern vergessen, hat aus guten Gründen Verfassungsrang. Nur durch sie wurde dem Staat in der Vergangenheit der Einfluss auf die Lohnfestsetzung weitgehend entzogen. Und das wiederum hat über Jahrzehnte den Standort Deutschland gestärkt, mit moderaten Lohnabschlüssen zum "Jobwunder" von heute beigetragen und die Unternehmen gezwungen, permanent an ihrer Produktivität zu feilen.
In neuen Dienstleistungsbranchen haben Gewerkschaften kaum Fuß gefasst
In mancher der alten Industrien – Metall und Chemie etwa – funktioniert der Ansatz bis heute. In den neuen Dienstleistungsbranchen dagegen haben die Gewerkschaften bisher kaum einen Fuß auf den Boden bekommen. Das Ergebnis ist eindeutig: Wo sich Firmen Tarifverträgen entziehen können, werden besonders niedrige Löhne gezahlt und besonders viele Teilzeitkräfte, Mini- und Multijobber beschäftigt.
Vor diesem Hintergrund müsste das vordringliche Ziel von Politik und Tarifpartnern sein, die Schieflage der Verhandlungsmacht zu beseitigen und die Augenhöhe zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften herzustellen. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn wird das allerdings nicht erreicht.
Insgesamt ist die Kreativität der Protagonisten überschaubar, wenn es darum geht, sinnvolle und langfristig erfolgsversprechende Alternativen zu entwickeln und zu diskutieren. Der Gesetzgeber könnte etwa ein Bürgergeld einführen, wie es die Freien Demokraten vorgeschlagen und scheinbar wieder vergessen haben. Nicht vom Fleck kommt auch die Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen, wie den Piraten und Teilen der Linkspartei und der Grünen vorschwebt.
Beide Ansätze hätten mit Blick auf die Tarifautonomie handfeste Vorteile, weil sie es – richtig gestaltet – unattraktiv machen würden, zu Hungerlöhnen zu arbeiten, ohne allerdings darüber hinaus an der Lohnsetzungskompetenz der Tarifpartner zu rütteln.
Unfraglich wäre dieser Weg der anspruchsvollere, im Vergleich zu einem allgemeinen, gesetzlichen Mindestlohn. Aber das wäre der Preis dafür, die Politik auf Abstand zu halten, wie das Grundgesetz es fordert. Dass die Gewerkschaften selbst trotzdem lieber nach dem Mindestlohn rufen, spricht für ihre derzeitige Schwäche. Dass die Politik diesem Ruf allerdings blindlings folgt, macht beide gemeinsam zum Totengräber der Tarifautonomie.
Man kann nur hoffen, dass die Arbeiterbewegung noch rechtzeitig ihren Stolz wiederentdeckt und den Anspruch entwickelt, zu gestalten, anstatt gestalten zu lassen. Das stünde allen Beteiligten gut zu Gesicht – und würde Wirtschaft und Beschäftigten langfristig weitaus mehr helfen, als ein Mindestlohn.

Christoph Giesa arbeitet als Publizist und Unternehmensberater in Hamburg, war Landesvorsitzender der Jungen Liberalen in Rheinland-Pfalz, Initiator der Bürgerbewegung zur Unterstützung von Joachim Gauck als Bundespräsidentschaftskandidat und Mitbegründer der linksliberalen FDP-Vereinigung "Dahrendorfkreis". Er schrieb das Buch "Bürger. Macht. Politik" (Campus-Verlag 2011). Das Zeitgeschehen kommentiert er In seinem Blog und als Kolumnist von "The European".
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