Kochtrend

Warum "Omas Küche" ein Missverständnis ist

Frisches Gemüse, Kräuter, eine Zwiebel und bunter Pfeffer auf einem hölzernen Schneidbrett
Frisches Gemüse, Kräuter, eine Zwiebel und bunter Pfeffer auf einem hölzernen Schneidbrett © Unsplash / Webvilla
Von Udo Pollmer |
Taufrisch, roh, ohne chemische Zusätze: Wie heute über Kochen zu Omas Zeiten gebloggt werde, sei nur ein verklärter Blick zurück, kritisiert Udo Pollmer. Denn gerade Naturbelassenes war gar nicht nach Großmutters Geschmack, weiß unser Lebensmittelchemiker.
Wenn Hamburger aus Mehlwürmern als Nahrung der Zukunft offeriert werden, vermisse ich die bewährte Mahnung, man solle bloß nichts essen, was Großmutter nicht als solches erkannt hätte. Diese populäre These verdanken wir dem Autor Michael Pollan, der nach einer griffigen Antwort auf die überbordenden Belehrungen der Ernährungsberatung suchte.
Aktuell soll diese "grundlegende Regel" vor allem vor industriell verarbeiteter, sprich "unnatürlicher" Speise voll chemischer Zusätze warnen. Was waren das früher noch für Zeiten als Großmutter mit Schürze und Kochlöffel durch ihren Garten streifte, und achtsam die bunten Schmetterlinge des Feldes verwies, bevor sie ihr Gemüse pflückte. Auf einem Holzbrett schnippelte sie die taufrische, bunte Ernte und garnierte sie auf großen Rohkosttellern mit einem leckeren Joghurt-Dressing voll duftender Kräuter. So das moderne Ideal einer heilen Küchenwelt.

Gut gekocht statt naturbelassen und frisch

Zu dumm: Naturbelassenes war leider nicht nach Großmutters Geschmack. Schon allein aus Gründen der Hygiene wurde gekocht. Nicht im Traum wäre es ihr in den Sinn gekommen, ihren Kindern gartenfrische Smoothies zu kredenzen, gemixt aus dem Grün von Karotten, aus Kernen, Schalen und anderen Küchenabfällen, wie es heute empfohlen wird.
Sie wusste, dass Kraut, Schalen und Kerne unbekömmlich sind. Die Insekten waren auch nicht ihre Freunde, sondern zuvörderst Schädlinge, die ihr die Ernte madig machten. In der Küche galten sie nicht gerade als kulinarische Hoffnungsträger, die vielen Fliegen sah sie am liebsten am Leimstreifen zappeln, der von der Decke baumelte.
Engagierte ErnährungsbloggerInnen rufen gerne Michael Pollan als Zeugen an, wenn sie konstatieren, Großmutter hätte um Konservierungsmittel wie die Benzoesäure oder künstliche Farbstoffe wie Tartrazin einen großen Bogen gemacht. Nichts sei ihr mehr abhold gewesen als die ganze moderne Chemie im Kochtopf.

Tartrazin und Salicylsäure als Zugaben

Doch Tartrazin ist seit über hundert Jahren beliebt, die Mütter jener Zeit waren stolz, ihren Kindern quietschgelbe Götterspeise zubereiten zu können – es ist die Enkelin, die sich mit ihren gespielten Ängsten heute zum Problemfall hochschraubt.
Schon damals war die Benzoesäure altbewährt. Großmutter griff allerdings lieber zur giftigeren und damit wirksameren Salicylsäure, um eingemachtes Obst zu konservieren – denn verderben durften ihre totgekochten Vorräte unter keinen Umständen.
Gemüse war früher niemals al dente, sondern zerging butterweich auf der Zunge. Damit es dennoch sattgrün aussah, wurde in manchen Haushalten in kupfernen Gefäßen gekocht und Gemüse beim Einwecken einer Kupferung unterzogen.

Fragwürdige Verfahren wiederentdeckt

Inzwischen wird diese fragwürdige und deshalb verbotene Praxis von der Lifestyle-Küche wiederentdeckt, gesunder Brokkoli und grüne Bohnen bekommen so wieder ihren ursprünglichen Teint. Der verklärte Blick zurück offenbart, wie blind unsere Zeit für echte Gefahren wurde.
Was hätten die damaligen Köchinnen wohl zur internationalen Küche gesagt? Hätten sie Sushi oder auch nur frittierte Calamares tatsächlich als Essen erkannt? Selbst Cola wurde manchmal mit der Bemerkung zurückgewiesen, es schmecke "wie Tinte". Dafür standen Kuttelsuppe, Herz und saure Nierchen auf dem Herd.
Tofu, Halbfettmargarine und Sojawürste wären für sie alles andere als ein besseres Essen. Großmutter kaufte lieber Suppenknochen und stellte einen Fond her, damit das Gemüse Geschmack bekam.

Ohne Fleisch kein richtiges

Weil damals eine Mahlzeit ohne Fleisch kein richtiges Essen war, bedurfte es kirchlichen Drucks, damit freitags Fisch als Fastenspeise auf den Tisch kam, die Kinder wurden mit süßen Gerichten wie Kaiserschmarrn oder Dampfnudeln abgespeist. Es wäre längst an der Zeit Großmutters Küche in Ehren zu halten, denn was ihre Generation aß, kann für die Enkel nicht "ungesund" sein!
Auch über Acrylamid hätten die Frauen damals nur gelacht – sie buken Plätzchen und brieten Kartoffeln nach ihrem Gusto. Angesichts der aktuellen Warnungen vor fettem Essen, Weißmehl, Fleisch, Pommes, Zucker, Salz würden sie sich mit dem Zeigefinger an die Stirn tippen. Mahlzeit!

Literatur
Pollan M: Essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht als Essen erkannt hätte. Goldene Regeln für gute Ernährung. Kunstmann, München 2013
Khoury S: Die Sehnsucht nach echtem Essen wecken. Lebenslinie-Magazin.de vom 16. Oktober 2017
Froböse I: "Iss nichts, was deine Oma nicht als Essen erkannt hätte". Happyandfit.blog, abgerufen am 11. März 2018
Earp C: Die 10 interessanten Food-Trends 2018. Blog vom 13. Jan. 2018
Vollhase E: Die Kennzeichnung der Grünung bei Gemüsekonserven. Ist die Zulassung der Grünung mit Kupfersalzen noch vertretbar? Zeitschrift für Untersuchung der Lebensmittel 1940; 79: 153–157
Deshpande SS: Handbook of Food Texicology. CRC Press, Boca Raton 2002
Richardson WH: Notes on Tartrazin, Journal of the Society of Dyers and Colourists 1887; 3: 2

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