Königin der Herzen

Keine Gestalt des Christentums wird in vergleichbarer Weise verehrt und geliebt wie die Gottesmutter Maria. Der Schweizer Franziskaner Josef Imbach geht in seinem Buch "Marienverehrung zwischen Glaube und Aberglaube" der Frage nach, inwieweit diese Verehrung auf biblische Grundlagen oder auf Brauchtum zurückgeht.
Viele Christen sehen in der Gottesmutter Maria die wahre Königin der Herzen. Vor allem Katholiken lieben und verehren die Gottesmutter wie kaum eine andere Gestalt des Christentums. Ein Beispiel: In der Propsteikirche zu Bremen findet man die meisten Blumen und Kerzen vor einer Marienikone. Nicht vor einem Jesusbild, nicht vor dem Kreuz.

Der Tod ihres Sohnes Jesu am Kreuz fügte Maria große Schmerzen zu. Daher, so Imbach, sehen insbesondere leidende Frauen in Maria eine große Identifikationsfigur. Darüber hinaus ist vielen die Gottesmutter in ihrer Schlichtheit und ihrer Mütterlichkeit näher als der unbegreifliche und allmächtige Gott.

Neben Ausdrucksformen des Glaubens beschreibt Imbach Erscheinungsformen des Aberglaubens: Kräutersegnungen an Marienfesten etwa gehen zurück auf heidnische Bräuche. In vorchristlicher Zeit versprach man sich von Kräutern Schutz vor Dämonen und Schadenzauber. Dieses heidnische Erbe vermochte das Christentum nie gänzlich zu verdrängen. Die christliche Position lautet: Nicht der Kräuterzauber hilft, wohl aber das Gebet zu Maria.

Am Beispiel des Betens zu Maria erklärt Imbach weiteren Konfliktstoff. Katholiken beten: "Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes." So lautet das Ende des "Ave Maria", deutsch: "Gegrüßet seist du, Maria". Für einen Großteil der Christen ist es das populärste Gebet nach dem "Vater unser".

"Bitte für uns" – hiermit wird für Protestanten der Bogen überspannt. Imbach bringt es auf den Punkt: Verehrung ja, Anrufung nein. Denn "dem ersten Timotheusbrief zufolge ist Christus ja der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen." Da ist weder Platz für Maria noch für weitere Heilige.

Wie aktuell die Frage der rechten Marienverehrung ist, zeigt sich am Rande der Debatte um die letzten Amtshandlungen Benedikt XVI. Vor wenigen Tagen hob der Papst die Exkommunikation von vier Bischöfen auf. Für diese Traditionalisten und Antimodernisten ist Maria mehr als die Königin der Herzen, sie ist die Göttin der Herzen.

Damit ist ebenfalls eine Grenze überschritten. Auch das zeigt Imbachs Buch: Mutter Gottes ja, Göttin nein. Denn Christen glauben an den einen Gott in drei Personen. Maria als vierte Person der Dreifaltigkeit – das ist weder rechnerisch korrekt noch biblisch fundiert.

Mit seinem Buch "Marienverehrung zwischen Glaube und Aberglaube" sondiert Josef Imbach das Feld. Hier die Maria der Bibel und Theologie, dort die Maria der Legenden, des Brauchtums und der Magie. Dabei kommen Grundlagen und Formen der Verehrungspraxis wie Gebete und Feste ebenso in den Blick wie Auswüchse und Fehlformen des Madonnenkultes.

Knapp bemessen sind die Quellentexte zu Maria aus Nazaret im Neuen Testament. Ein einzelner Satz in den Schriften des Paulus, eine Erwähnung in der Apostelgeschichte. Das meiste Material findet man in den Evangelien, insbesondere am Beginn des Matthäus und Lukasevangeliums. Imbachs Fazit lautet:

"Aufs Ganze gesehen berichtet das Neue Testament herzlich wenig über Maria. ... Immer wieder wird Maria im Neuen Testament vorgestellt als ‚die Mutter Jesu’ ... Darin liegt ihre einzigartige Bedeutung – wobei damit gleichzeitig gesagt ist, dass Jesus kein ‚verkleideter Gott’, sondern wahrhaft und wirklich Mensch war."

Maria ist die Mutter Jesu. Jesus von Nazaret ist dem Neuen Testament nach Mensch, aber auch Sohn Gottes. So ist die Mutter des menschlichen Jesus auch Mutter des göttlichen Sohnes. Daher der Titel "Mutter Gottes".

Diese Besonderheit unterstreicht die Jungfrauengeburt. "Maria war Jungfrau vor, in und nach der Geburt." So das Dogma der katholischen Kirche. Wie jede Frau ist auch die Jungfrau Maria Lebensspenderin. Da liegt die Versuchung nahe, der besonderen Mutter Maria göttliche Züge zuzusprechen. Dann wird Maria zur Göttin erhoben.

Imbach verdeutlicht dies mit folgendem Beispiel: Im fünften Jahrhundert dreht sich ein Theologenstreit um den rechten Ehrentitel für Maria. Ein paar "eifrige Marienprediger" preisen Maria als "Gottesgebärerin". Andere hingegen fragen sich: Warum sollte Gott eine Mutter haben? Müsste dann nicht auch Gott Vater eine Mutter haben? In ihren Augen reicht der Titel "Menschengebärerin".

Die Entscheidung in Folge des Konzils von Ephesos (431) lautet: Maria ist Gottesgebärerin. Dieser Titel sagt vor allem etwas aus über die Gottheit Jesu.

Dennoch rückt Maria immer mehr in den Mittelpunkt der Verehrung. In Ephesos macht sie "der dort verehrten Muttergöttin Artemis den Platz streitig" und verdrängt diese ganz. Dabei überlagern sich zwei Bewegungen.
Im Artemiskult sehen Christusgläubige von Beginn an "eine Erfindung des Teufels". Sie bekämpfen den Artemiskult, zerstören aber die Bilder der Göttin nicht. Sie wandeln sie lediglich zu Madonnenfiguren. Auch verändert man bei alten Gebeten und heidnischen Gesängen nur den Namen. Aus Artemis wird Maria.

Das ist kein Einzelfall. Oft widmet man heidnische Götterstatuen um oder deutet antike Symbole als Ausdrucksformen des Christentums. Doch geht das nicht immer so klar und eindeutig von statten wie gewünscht.

Das Christentum ist inzwischen Staatsreligion. Und damit ist es eine Religion der Massen. In der Masse finden sich viele Mitläufer. Die hängen noch an den alten Gefühlen, Sehnsüchten und Vorstellungen und bringen diese mit in die Marienverehrung ein.

Ähnliches kennt man von der Marienverehrung, vom christlichen Brauchtum in Lateinamerika. In Ephesos wird die Gottesmutter Maria schließlich zur "Großen Mutter", ja zur Muttergöttin. Sie wird "nicht weniger inbrünstig angerufen als ihre Vorgängerin." Aus Maria wird Artemis.

Zweites Bespiel: Imbach zitiert eine Predigt aus dem Jahr 733. Die hält Germanos I., der Patriarch von Konstantinopel:

"Wer wollte Dich [Maria] nicht selig preisen? Wer sollte dich nicht bewundern, ... den Tau für die seelische Trockenheit, den Regen für das verdürstende Gras; denn durch dich, sagt die Schrift, ‚werden wir aufblühen wie frisches Gras‘ (Jesaja 56, 14)."

Schöne Bilder, doch wird hiermit die Grenze zur Vergötterung Marias "zumindest gestreift". Denn Germanos wendet einen Jesaja-Vers auf Maria an. Der aber bezieht sich ursprünglich auf Gott. Eindeutig überschritten wird die Grenze mit folgender Äußerung aus derselben Predigt:

"Niemand kann Gott erkennen, außer durch dich, o Heiligste. Niemand wird gerettet, außer durch dich, o Gottesmutter. ... Niemand wird erlöst, außer durch dich, o Mutter des Herrn ..."

Derlei Ansichten werden im Mittelalter "in unzähligen Predigten verbreitet." Kein Wunder, dass "Maria im Volksglauben, zumindest faktisch, nicht selten wichtiger war als Gott selbst." Dieser Glaube findet Ausdruck in Kultbildwallfahrten und in mitunter übersteigerter Reliquienverehrung. Kurfürst Friedrich der Weise etwa, Luthers Sponsor, besaß 56 Marienreliquien. Darunter befanden sich Haarsträhnen der Gottesmutter ebenso wie Milchreste. Die waren eigentlich für das Jesuskind bestimmt.

Der Schweizer Franziskaner ohne katholische Lehrerlaubnis bietet Einblicke in Brauchtum und Volksfrömmigkeit sowie in Kunstgeschichte und moderne Literatur. Auf tradierte Legenden geht er ebenso ein wie etwa auf die Rolle Marias im Judentum und im Islam. Die hängt immer ab von der Rolle Jesu.

Daher ist Maria für Juden "nur", aber vor allem "eine leidende jüdische Mutter." Viele haben ähnlich gelitten. Imbach führt zwei Beispiele an: So weinte die biblische Rahel um ihre Kinder, so weinten viele namenlose jüdische Frauen um ihre Kinder, die in Konzentrationslagern umgebracht wurden.

Für Muslime hingegen ist Maria Prophetenmutter, aber keineswegs Gottesgebärerin. Denn es gibt keinen Gott außer Allah. Ferner ist Maria dem Koran nach Muslima par excellence: Sie unterwirft sich ganz und gar dem Willen Gottes.

Imbach legt ein fundiertes, vielseitiges und gut lesbares Sachbuch vor, kein frommes Buch zur Erbauung. Dennoch entdeckt man beim Lesen den Respekt des Autors vor der heiligen Maria, aber auch pointierte Kritik in Bezug auf so manche Facette und Fehlentwicklung der vielschichtigen Marienverehrung.

Rezensiert von Thomas Kroll

Josef Imbach: Marienverehrung zwischen Glaube und Aberglaube
Patmos Verlag, Düsseldorf 2008
256 Seiten, 19,90 Euro