Körperhaltung

Das Gleichgewicht ist der "Alleskönner"

23:42 Minuten
Teilnehmerinnen und Teilnehmer machen während einer Sportstunde für Menschen ab 60 eine Gleichgewichtsübung.
Teilnehmerinnen und Teilnehmer machen während einer Sportstunde für Menschen ab 60 eine Gleichgewichtsübung. © picture alliance / dpa / Sebastian Gollnow
Von Silvia Plahl |
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Ins Gleichgewicht zu kommen, trainieren schon Kinder – eigentlich. Denn oft ist der Sinn fürs rechte Lot schon früh gestört, weil etwa Übungsmöglichkeiten fehlen. Dabei wirkt sich der Gleichgewichtssinn bis ins hohe Alter auf unsere Wahrnehmung aus.
Zehn Frauen über 60 stellen sich auf ihre zusammengerollten Gymnastikmatten – und wippen. Die Frauen versuchen, auf der Rolle ins Gleichgewicht zu kommen und heben einen Fuß an. Dann üben sie im Stehen "Brustschwimmen".
Alle drehen sich hin und her, schwanken vor und zurück, sie fahren mit der wackelnden Matte "Tretroller" und gehen dann in die Hocke.
Und während die Sportlerinnen beim Balancieren rechnen und ihren Spaß haben, erklärt Trainerin Kathrin Bischoff kurz den Sinn und Zweck dieser Übungen.
"Man kämpft ja auf dieser Rolle an sich schon ums Gleichgewicht, und in dem Moment, wo ich das Ganze erschwere, werde ich halt in Alltagssituationen sicherer, und das heißt: Mein Kopf kann sich nicht damit beschäftigen, das Gleichgewicht zu steuern, sondern meine Kognition ist mit dem Rechnen beschäftigt, während mein Körper alleine dafür sorgen muss, dass ich das Gleichgewicht nicht verliere."
Ein klassisches sensomotorisches Training.
"Ich versuche mein Gleichgewicht in einer bestimmten Position unter Einfluss von Störungen zu erhalten. Und Störungen können die Wippe sein oder diese Matte oder die Matte plus Zusatzaufgabe."

Wer aus der Balance gerät, kann stürzen

Die balancierenden Frauen des Sportvereins Preußen Berlin trainieren schon viele Jahre zusammen und manche schaffen es, länger auf einem Bein zu stehen und die Augen zu schließen.
"Manche Dinge fallen mir dann schon schwer. Da bin ich schon ganz ehrlich. Ist schon für mich auch wichtig, hierher zu kommen. Dass man dran bleibt", sagt die 82-jährige Teilnehmerin Evi.
Dran bleiben am Gleichgewicht. Wer aus der Balance gerät, ins Schwanken kommt und den Halt verliert, kann stürzen. Die oft schweren Verletzungen durch einen Sturz sind laut Weltgesundheitsorganisation nach den Verkehrsunfällen die zweithäufigste Ursache für sogenannte unbeabsichtigte Todesfälle. Die Zahl der Menschen, die durch einen Sturz sterben, ist zwischen 2000 und 2019 um mehr als 50 Prozent gestiegen. Vor allem die über 60-Jährigen sind davon betroffen.
Doch offenbar riskieren der WHO zufolge auch immer mehr junge Menschen, dass sie fallen: Fast 40 Prozent der 37 Millionen weltweit, die jedes Jahr nach einem Sturz ernsthafte Prellungen, Knochenbrüche oder Schädeltraumata davontragen, sind Kinder. Solche Verletzungen können langwierig sein oder zu Behinderungen für den Rest des Lebens führen. Aus der Balance zu geraten ist für Ältere eine ernsthafte Gefahr, weil sie körperlich und kognitiv nachlassen – und für junge Menschen, weil sie ihr Gleichgewicht offenbar nicht richtig ausbilden und trainieren.

"Ohne Gleichgewicht geht es nicht"

Was aber ist das Gleichgewicht? Eine Frage an Philipp Schwabe und Rolf Skibba. Beide arbeiten in der Berliner Vivantes-Klinik in Spandau. Philipp Schwabe leitet dort die Orthopädie.
"Also, das Gleichgewicht spielt ja nicht nur eine Rolle für unseren Bewegungsapparat, sondern für das Überleben an sich. Ohne Gleichgewicht kann ich weder stehen noch sitzen und ich kann ohne Gleichgewicht gar keine aktiven Bewegungen ausführen! Ohne Gleichgewicht geht es nicht. Das Gleichgewicht subsummiert die Aktivität von verschiedenen Körpersystemen, die wir dafür benutzen. Zum Beispiel brauche ich natürlich Sinnesorgane, um wahrzunehmen, wo und in welcher Position ich mich befinde.
Wo dann insbesondere Augen und Ohren eine ganz besondere Rolle spielen und das Innenohr als Gleichgewichtsorgan diese Reize aufnimmt, an das Gehirn, Rückenmark weitergibt und dann entsprechend an die Muskulatur, Gelenke, Sehnen, Bänder weitergibt – um dort zu einer Reaktion zu führen, ein Gleichgewicht herzustellen. Dass wir nicht hinfallen."
Dieses Zusammenspiel im Körper findet laufend statt und zum Großteil unbewusst, sagt Rolf Skibba. Er ist Chef der Physiotherapie in der Spandauer Klinik.
"Wir sind nie in Ruhe. Das, was uns als Ruhe erscheint, ist ein permanentes Justieren der Systeme. Muskeln, Sehnenapparat, Spannung, Gewicht et cetera, was permanent diesen Zustand justiert." Und wie halten wir unser Gleichgewicht? "Meine Haltung ist, dass ich versuche, mich relativ kraftarm in diesem Zustand zu halten! Dass wir relativ wenig Kraft dort einbringen müssen! Deswegen ist Haltung immer eine aktive Tat, eine aktive Situation, die Sie nur nicht als solche wahrnehmen. Dementsprechend verbraucht sie auch Energie, weil die Muskulatur trotzdem zu arbeiten hat."
Unser Körper bringt uns also ständig ins Gleichgewicht und sorgt dafür, dass wir uns nicht nur halten, sondern auch gut bewegen können. "Gehen" zum Beispiel bedeutet genau genommen: Immer wieder auf nur einem Bein stehen und nach vorne fallen. Und nur ein intaktes inneres Gleichgewichtssystem verhindert, dass dies tatsächlich im Sturz endet. Ein guter Grund dafür, das Gleichgewicht zu trainieren.
"Witzigerweise ist es so, dass der Haltung und dem Gleichgewichtssinn im Training bis vor zehn, zwanzig Jahren gar nicht so eine große Rolle zugekommen ist, aber durch Sportarten wie insbesondere Yoga ist es so, dass man schon begriffen hat, dass auch die Haltung und das Gleichgewicht zu trainieren nicht nur für den Spitzensportler – denn dort wird das schon lange gemacht, um Verletzungen zu vermeiden –, sondern auch für den Otto-Normal-Bürger sehr wichtig ist, um entsprechend Haltungsschäden im Alter zu vermeiden."
Denn eine aufrechte Haltung und ein geschultes Gleichgewicht können auch degenerative Schäden etwa an der Wirbelsäule mildern, die durch Abnutzung oder Verschleiß entstehen. Außerdem verbessert das ständige Bemühen, sich möglichst schnell wieder ins Lot zu bringen, die Reaktionszeit. Dass das Spaß macht und guttut, lässt sich mittlerweile bei einigen populären Sportarten beobachten: Yoga ist da nur ein Beispiel von vielen. Stand-up-Paddling etwa ist eine beliebte Herausforderung. Oder das Balancieren auf der Slack-Line. Auch für Tai Chi interessieren sich immer mehr Menschen.

Übungen trainieren das Gleichgewicht

Im Tai Chi gelten die fließenden Bewegungsabfolgen, die eine hohe Konzentration erfordern, als besonders gutes Gleichgewichtstraining. Kursleiterin Pia Bitsch-Rumpe zeigt mit drei Aktiven eine kurze Sequenz. Zwei Frauen und ein Mann verteilen sich in einem hellen Studio mit Parkettfußboden in Berlin-Steglitz.
Die Gelenke lockern, die Wirbelsäule aufrichten, Schultern und Becken lösen – und "den Rücken fallen lassen".
Aus diesem Gefühl heraus machen die Übenden die ersten Schritte: Sie drehen sich, setzen langsam ein Bein auf, heben das freie Knie an und kicken den Fuß mit der Ferse nach vorne. Dann werden ihre Bewegungen dynamischer.
"Der goldene Hahn steht auf einem Bein", "Der Löwe spielt Ball", "Die Schlange kriecht zu Boden", sagt Pia Bitsch-Rumpe an. Die kleine Gruppe bewegt sich nach vorne, zur Seite und immer wieder geht es auch zurück zur Körpermitte mit einem inneren Absinken zum Boden. Das sieht sehr harmonisch aus – mit dem einen oder anderen Wackler.
"Ohne Gleichgewicht geht nichts. Das Gewicht muss unten ankommen, die Faszien müssen nachgeben können, die Muskulatur muss gestärkt werden, die Knochen gut ausgerichtet. Wir versuchen da hinzufinden zu einer möglichst anatomiegerechten und gesunden Bewegung, und ich denke, dann wird die Stabilität, wird das Gleichgewicht ganz von alleine immer besser und man kann das Gleichgewicht schneller finden. Und auch in der Bewegung immer leichter finden."

Bewegung bedeutet, immer neu ins Gleichgewicht zu finden

Henrike Lindemann und Thomas Bichler erzählen, was dieses Training bei ihnen bewirkt.
"Man entwickelt ein großes Bewusstsein für die Tragfähigkeit der Füße. Für die Stabilität in den Beinen. Und dann ist es das Üben des Weichwerdens und des Vertiefens und des bei sich selber Ankommens. Im Gleichgewicht", sagen sie. "Also ich glaube schon, dass man durch das intensive Training stabiler wird. Es ist eine Stabilität in der Bewegung, die man immer wieder suchen muss, und das funktioniert nur, wenn man sein Zentrum hat, dabei alles sinken lassen und trotzdem sich aufrichten. Das sind erst mal scheinbare Widersprüche, aber genau das üben wir. Und was dann noch kommt: Ich schlafe besser, ich habe einen messbar niedrigeren Blutdruck und ich habe einen vollkommen anderen Ruhepuls mittlerweile."
Und Yoko Tawada demonstriert einmal kurz, was für sie im Tai Chi am schwierigsten ist.
"Ich bin ja eigentlich so ein Mensch, der immer mit dem Kopf nach vorne ... aber ich versuch erst mal zu stehen. Der Oberkörper muss ganz leicht sein – und das ist bei mir umgekehrt, der Kopf ist ganz schwer, Oberkörper halb schwer und darunter gibts gar nicht. Aber das muss dann umgedreht werden! Nach unten ganz schwer und während ich mein Bein bewege, muss das ja stabil bleiben! Aber Pia sagt immer: Im Wackeln sucht man nach der Stabilität. Also am Anfang ist es so peinlich, dass man nicht Kick machen kann und so wackelt, aber das ist nicht schlimm!"
Es ist ein ständiges Wechselspiel: Das Gleichgewicht ermöglicht erst jeden Schritt oder das Armheben, Drehen, Rudern, Schaukeln, Springen – und muss all diese körperlichen Veränderungen auch wieder ausgleichen. Sich zu bewegen bedeutet gleichzeitig, immer wieder neu ins Gleichgewicht zu finden. Ein gut ausbalancierter Körper ist stabil und flexibel zugleich. Dabei kann die Vorstellung helfen, sich permanent ins Lot zu bringen.

"Wer gut im Lot ist, braucht auch weniger Kraft"

So beschreibt es der Physiotherapeut Rolf Skibba:
"Sie stellen sich auf den linken Fuß. Sie verlagern Ihr Gewicht nach links, eine Schnur würde jetzt in der Fußfläche sozusagen landen. Würden Sie versuchen, das Lot nach rechts zu verlagern, kippen Sie nach rechts um. So wie Sie jetzt auf einem Bein stehen, versuchen Sie doch mal, mit der rechten Hand Ihre linken Zehenspitzen zu berühren! Das heißt, Sie würden jetzt noch anfangen, Ihren Kopf mit einzusetzen, Ihre Augen mit einzusetzen, noch alle Gleichgewichtssinne mit in Bewegung zu bringen. Und das wird immer schwieriger. Und Sie sind unbemerkt ständig dabei, Ihren Körper so zu korrigieren, dass diese Schnur weiterhin in die Fläche fällt, die Ihre Unterstützungsfläche ist. Das macht man automatisch."
Wer gut im Lot ist, braucht auch weniger Kraft, um nicht zu straucheln. Egal in welcher Position. Das Beispiel Standwaage:
"Hier sind wir eigentlich schon wunderbar in einem Training, was auch jeder zu Hause machen kann. Wenn die Hand festgehalten wird, Sie also eine Balance-Hilfe haben, werden Sie die Übung machen können. Dann reduziert man diese Balance-Hilfe."
Und hält sich zum Beispiel an einem Stuhl fest.
"Dann lassen Sie nur noch einen Finger auf dem Stuhl. Dann nehmen Sie den Finger mal kurz weg von dem Stuhl! Und korrigieren sich aber gleich wieder. Und irgendwann werden Sie in dieser Standwaage fünf Minuten stehen können."
Solche Übungen lassen sich beliebig steigern – um das Zusammenspiel aus Sinneswahrnehmung, Reizverarbeitung im Gehirn und der Muskelreaktion herauszufordern. Täglich immer länger auf einem Bein stehen und die Augen dazu schließen. Sich beim Spazierengehen unterhalten. Dies wird älteren Menschen oft empfohlen. Eine so genannte 'Dual-Task-Aufgabe'.
"Die Schnelligkeit, die Fähigkeit dieser Anpassung dadurch zu verbessern, dass wir ganz viele Dinge auch gleichzeitig machen. Also der Klassiker ist ja ein Tennis-Spieler, der während seines Einlaufens versucht, mit Bällen zu jonglieren oder so."
Jeder neue Reiz schult das Gleichgewicht.
Kinder probieren genau dies intuitiv aus. Sie balancieren auf der Mauer wie auf der Sofakante, sie lieben das Schaukeln, schließen oft die Augen, drehen sich schwindelig, hängen gern kopfüber. Doch immer mehr Kinder haben damit Schwierigkeiten, bemerkt die Berliner Sportpädagogin Marlies Marktscheffel.

Je vielseitiger die Bewegungserfahrungen, desto besser die Balance

"Habe ich vorher den Kindern noch einen Hüftaufschwung beigebracht, bringe ich ihnen jetzt bei: Wie halte ich mich an einer Stange fest? Das sind halt die motorischen Grundtätigkeiten, hängen, hangeln, stehen, balancieren, was die Kinder nicht mehr können! Und auch Rückwärtsgehen wird immer schwieriger."
Junge Menschen müssen ihre körperlichen Möglichkeiten erst ausbilden – für den Alltag, aber auch um später vielleicht eine Sportart zu erlernen. Die Basis dafür sind einerseits die motorischen Fertigkeiten, Kraft und Kondition und andererseits die koordinativen Fähigkeiten wie Orientierung und Reaktionsfähigkeit oder das Gefühl für eine Bewegung. Auch sollte man Bewegungen rhythmisieren und aneinander koppeln können – und umstellen, wenn etwa plötzlich ein Ball zugespielt wird. Zu all dem kommt:
"Ob es jetzt im Geräteturnen ist oder in der Rhythmischen Sportgymnastik oder beim Volleyball oder beim Wasserspringen – ich muss immer wieder gucken, dass ich meine Bewegung im Gleichgewicht halte! Sonst weiß ich nicht mehr, wo ich bin. Und wir können, wenn wir es trainieren, eben auch sagen: Wir gehen auf einem Tau oder wir balancieren auf der Turnbank oder dem Schwebebalken und jetzt wird das alles auch noch labil auf einer Matte, wo drunter Medizinbälle oder Turnstäbe liegen, das rollt alles!"
Je vielseitiger die Bewegungserfahrungen, desto besser die körperliche Balance. Ungewohnte Positionen bringen die besten Effekte.
Eine Frau macht zuhause Gleichgewichtsübungen auf dem Balance-Board.
Eine Frau macht zuhause Gleichgewichtsübungen auf dem Balance-Board.© picture alliance / dpa Themendienst / Christin Klose
"Man muss Reize setzen, und dadurch kommt der Körper immer wieder ins Grübeln: Was muss ich machen? Welche Muskulatur muss ich anspannen? Wo muss ich nachlassen? Damit ich nicht umfalle."
Mädchen und Jungen beim Geräteturnen. Sie stellen sich bereits den größeren Anforderungen ans Gleichgewicht. Lina, zehn Jahre alt, sagt zum Beispiel: Man müsse sich immer auf die Balance konzentrieren. Auf dem Schwebebalken wie beim Rad schlagen. Anna-Elle und Bianca, elf und acht Jahre alt, geben ein paar Übungstipps: Die Baum-Übung aus dem Yoga – ein Bein angewinkelt an die innere Oberschenkelseite des anderen Beines angelegt –, finden die beiden hingegen ganz lustig.
Vor allem aber lieben die zwei Mädchen den Handstand – das fühle sich dann so an, als müsse man das Gleichgewicht in der Luft halten.

Selbst Aufmerksamkeit und Gedächtnis hängen mit dem Gleichgewicht zusammen

Wer gut ausbalanciert ist, kann auch eine Vielzahl an Bewegungen ausführen. 'Dual-Task- oder Rechenaufgaben trainieren das Gleichgewichtssystem zusätzlich – dieser Effekt wirkt außerdem umgekehrt: Auf einem schwankenden Untergrund wie einer Wippe oder einem Balance-Board werden auch die Gedächtnisleistung und räumliche Vorstellungskraft gestärkt. Und immer wieder zeigt sich: Stabil durchs Leben zu gehen hat darüber hinaus eine Auswirkung auf die Psyche.
Für die Pädagogin Dorothea Beigel ist das Gleichgewicht also geradezu ein Alleskönner.
"Es dient dazu, dass wir körperliche Sicherheit haben, seelisch ausgeglichen oder ausgeglichener sein können. Unsere Aufmerksamkeit, unser Gedächtnis, unsere Konzentration, die hängen alle mit diesem Gleichgewicht zusammen!"
Dorothea Beigel fordert neun Frauen und zwei Männer dazu auf, aufzustehen und die Augen zu schließen. Dann sollen alle die Augen öffnen und in die Position gehen, in der sie sich gut im Gleichgewicht gefühlt haben. Es geht in dieser Runde darum, das eigene körperliche Gleichgewicht zu erleben – wie es ist, von Innen heraus und alleine in Balance zu bleiben, ohne einen extra Halt zu brauchen. Die Frauen und Männer sind Pflegekräfte, sie arbeiten im Hansa Seniorenheim in Goslar.
Auch sie stehen auf einem Bein, sprechen ein Gedicht auf Wackelkissen und überlegen, wie die Heimbewohnerinnen und -bewohner von ähnlichen Übungen profitieren können. "Dass sie mehr Gespür kriegen für ihr Gleichgewicht, dass sie auch sicherer werden, wenn sie mit dem Rollator gehen oder überhaupt sich bewegen."
"Und das Gleichgewicht, das Vestibularsystem ist lebenslang trainierbar. Auch bei Liegend-Patienten, auch bei Demenzbetroffenen, auch in der Prävention Demenz oder auch einfach nur beim Älterwerden."
Dorothea Beigel hat ein Konzept erarbeitet, wie Bewegung und Balance-Übungen dementen Personen helfen können. Sie zeigt es den Pflegekräften.
In einem leeren Patientenzimmer probiert die Gruppe einmal selbst aus, was sie fühlen, wenn die Rückenlehne eines Pflegebettes hoch- und heruntergefahren wird. Ein junger Pfleger ist beeindruckt.
Und während die Pflegekräfte selbst testen, was allein das Anheben des Kinns bei ihnen bewirkt, erklärt Dorothea Beigel, dass ältere Menschen nach solchen kleinen Bewegungsübungen auf einmal gesagt haben: 'Ich konnte aufstehen ohne Schwindel.'
Heimleiter Arne Eckhardt erzählt: Es arbeiten schon einige Pflegekräfte mit den Gleichgewichtsübungen. Er berichtet von einer hochbetagten Bewohnerin, die stark an Demenz erkrankt ist und oft ziellos umher irrte.
"Und nachdem diese Übungen regelmäßig ungefähr ein Vierteljahr durchgeführt wurden, war das Verhalten dieser Dame komplett anders! Sie hat wieder gesprochen, sie hat sich Notizen gemacht, der Bewegungsantrieb war nach wie vor da, aber sie konnte ihn für sich selber steuern. Also, da sind Prozesse in Gang gesetzt worden, die vorher völlig verschüttgegangen waren durch die Demenz."
So wie älteren Menschen die gute Balance im Körper, Gehirn und Geist hilft, so kommt sie auch den ganz Jungen zugute. Dorothea Beigel betreute vor einigen Jahren eine Studie des Hessischen Kultusministeriums, in der es darum ging, mit Grundschulkindern aus den zweiten Klassen regelmäßig im Unterricht das Gleichgewicht zu trainieren. Nach 18 Monaten zeigte sich: Die Mädchen und Jungen verbesserten sich in Deutsch und Mathematik, sie hatten mehr Lernfreude. Die Lehrkräfte erlebten ein Klassenklima, das entspannter war als zuvor. Rund 90 Prozent der Kinder hatten außerdem Spaß am Üben.

Das Gleichgewicht stören, um es zu trainieren

Beim SV Preußen Berlin trainiert Sportlehrerin Kathrin Bischoff in einer Schulturnhalle auch die Kleinsten ab drei Jahren. Sechs Mädchen und Jungen gehen rückwärts, hüpfen seitwärts, sie rennen und stoppen abrupt, halten mit ausgestrecktem Arm einen Ball. Dann setzen sie sich darauf.
Charlotte, sieben Jahre alt, findet das toll. Obwohl oder weil sie ganz schön auf dem Ball hin und her rutscht.
"Dann fällt man runter ganz einfach! Manchmal klappt es, weil der Ball nicht wegrollen kann. Wenn man den irgendwie einklemmen kann, dann schafft man das."
"Kinder sehen darin, dass sie kippen und fallen, eine Herausforderung und einen Spaß. Auch bei Jugendlichen sehen wir das noch, dass sie mit Skateboards oder mit anderen Gegenständen versuchen, um ihr Gleichgewicht zu kämpfen."
Segeln, Eislaufen, Snowboarden – überall ist es gut, das Gleichgewicht zu stören, um es zu trainieren.
Ein kleiner Junge balanciert auf einem Klettergerüst am Spielplatz.
Ein kleiner Junge balanciert auf einem Klettergerüst am Spielplatz.© picture alliance / dpa-tmn / Christin Klose
"Ich reize das Gleichgewichtsorgan durchs Schaukeln, und jeder Kinderspielplatz hat niemals genug Schaukeln! Schaukelringe sind eine Seltenheit geworden in vielen Grundschulturnhallen, in den größeren Altersstufen sowieso – es bleibt aber wichtig. Auch für ältere Menschen. Man sagt immer, Tanzen ist so wichtig! Ich begebe mich rhythmisch von einem Fuß auf den anderen und ich drehe mich! Letztendlich ist jedes Bewegungsangebot ein Training des Gleichgewichts, und je mehr ich in Bewegung komme, desto mehr reize ich auch alle Sensoren und alles, was das Gleichgewicht braucht."
E-Bike- und E-Scooter-Fahren sind gerade für viele eine neue Herausforderung. Auch dabei lohnt es sich, die Fahrzeuge erst in Ruhe zu testen und sich darauf zu konzentrieren, immer im eigenen Lot zu sein.
Denn wer einmal stürzt, verliert oft das Vertrauen in die eigene Bewegung, warnt der Physiotherapeut Rolf Skibba.
"Wir haben die Angst, wir haben am Ende ein System, was vielleicht ausfällt, nämlich diese Tiefen-Wahrnehmung und wir haben auch eventuell noch eine fehlende Belastbarkeit, das heißt, wir können die Muskeln gar nicht richtig einsetzen."
Der Orthopäde Philipp Schwabe empfiehlt: Um genau das zu verhindern, trainieren wir am besten unser Gleichgewicht andauernd nebenbei.
"Ich muss aktiv was machen, um die Systeme zu bespielen, zu bespaßen und zu trainieren. Und dann erst wird das Resultat das bessere Gleichgewicht sein."
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