Warum wir mehr Nähe brauchen
Eine Umarmung und ein bisschen Kuscheln: Nähe und Wärme sind existenziell für den Menschen, doch im Digitalzeitalter wird Körperkontakt immer seltener. In ihrem Buch warnt Elisabeth von Thadden vor einer "berührungslosen Gesellschaft".
Andrea Gerk: Wenn Menschen nicht berührt werden, verkümmern sie. Das zeigen immer wieder Beispiele wie die vernachlässigten Kinder, die man in rumänischen Waisenhäusern entdeckte. Aber Berührungen können auch unerwünscht und quälend sein, das hat nicht zuletzt die MeToo-Debatte noch mal ins öffentliche Bewusstsein geholt.
Was Berührungen können, wo sie fehlen und wem sie schaden, damit setzt sich Elisabeth von Thadden in ihrem neuen Buch "Die berührungslose Gesellschaft" auseinander. Sie ist Redakteurin bei der Wochenzeitung "Die Zeit" in Hamburg, und dort bin ich jetzt auch mit ihr in einem Studio verbunden. Guten Morgen, Frau von Thadden!
Elisabeth von Thadden: Guten Morgen!
Gerk: Und durch die digitale Welt entwickelt sich das ja auch noch mal rasant. Das zeigen Sie in dem Buch auch, dem Thema haben Sie sich auch gewidmet, dass ja sehr viele junge Menschen eben, das ist ja bekannt, ihr Smartphone als erweiterten Körperteil empfinden und da so stellvertreterartige Berührungen hat. Führt das denn zwangsläufig in die berührungslose Gesellschaft?
von Thadden: Ich glaube nicht, dass ich zum Kulturpessimismus wirklich begabt bin. Ich würde auch deswegen die Welt der Smartphones mehr mit Interesse als mit Skepsis anschauen. Tatsächlich ist es so, dass man natürlich inzwischen an vielen Stellen zeigen kann, dass die digitale Berührung die körperliche, analoge Berührung auch ersetzt.
Aber das tut sie ja auch im durchaus guten Sinne. Man braucht ja bloß daran zu denken, wie Mütter, die auf beruflichen Reisen sind, über Skype oder über das Smartphone mit ihren Kindern kommunizieren. Das bleibt selbstverständlich ambivalent, aber gleichzeitig schafft es auch eine Form der Nähe. Man kann nicht einfach nur sagen, hier seien Verluste zu beklagen.
Aber was die digitale Welt sicherlich doch mit sich bringt, ist ein eigentümliches Umkreisen des Selbst, also des perfekten Selbst. Das scheint, so sagt es einem auch die sozialpsychologische Forschung, eine Begleiterscheinung zu sein. Man hat im Grunde doch immer diesen Selbstcheck, dieses permanente Selbstevaluieren, dieses permanente "Wie sehe ich aus, wie wirke ich, wie komme ich an?"
Und dass demgegenüber der ganz normale hustende und schwitzende leibliche Mensch, der vielleicht im Nachbarzimmer sitzt und gar nicht perfekt ist, dass der demgegenüber vielleicht ins Hintertreffen gerät. Das ist jedenfalls ein Gedanke, dem sich mal zuzuwenden sich lohnt.
Warum der Tastsinn unersetzbar ist
Gerk: Sie haben ja auch viele Experten getroffen für Ihr Buch. Unter anderem fand ich sehr spannend den Tastsinnforscher Martin Grunwald. Der ist unter anderem Gründer des Haptik-Labors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Uni Leipzig. Und da fand ich wirklich überraschend in diesem Kapitel, dass die Erforschung der Haptik, unseres Tastsinns und dem, was Berührungen mit uns machen, ja so vergleichsweise wissenschaftlich noch stiefmütterlich behandelt wird, was im krassen Gegensatz ja dazu steht, wie wichtig der Tastsinn ist. Hat Sie das auch überrascht?
von Thadden: Das war eines der ersten Faszinosums, mit denen das Buch begonnen hat. Ich hab das selbst gar nicht für möglich gehalten, dass der Tastsinn so wenig bekannt ist. Aber damit ist auch eine der Entdeckungsreisen für mich losgegangen. Dass man dem Tastsinn möglicherweise etwas abgewinnen kann, was alle anderen Sinne des Menschen so gar nicht haben, nämlich schlicht unersetzbar zu sein.
Man kann sehr gut leben, wenn man nicht sieht. Man kann sehr gut leben, wenn man nicht hört. Aber den Tastsinn kann niemand entbehren. Er dient der Orientierung im Raum, er ist gewissermaßen die Ortung des Menschen im Verhältnis zu allen anderen. Und dass man dort jetzt entdeckt, wie sehr gedeihliche Berührung wohltuend ist, also etwa fürs Immunsystem, etwa für die Entwicklung der Kinder, aber auch im Umgang mit Alten, die sich auf diese Weise ihrer Existenz vergewissern können, das ist etwas, was wir gerade nachzuholen scheinen.
Ich wünschte mir jedenfalls, dass die Tastsinnforschung viel mehr Aufmerksamkeit bekommt, um vielleicht ein bisschen das Säugetierhafte am Menschen zurückzugewinnen. Der Grunwald sagt ja, dass er sich große Sorgen macht, dass der Mensch vergisst, ein Säugetier zu sein. Das ist nur eben leider etwas, was man keineswegs übersehen könne. Das Säugetier, das wir qua Geburt und qua Sterblichkeit sind und bleiben. Und damit sich zu befassen, sich damit zu befreunden, bleibt eine menschliche Grundsituation.
Gerk: Und das ist ja auch eben überlebensnotwendig für Menschen. Viele haben zu wenige Berührungen in unserer Gesellschaft. In Großbritannien zum Beispiel hat man deshalb ein Einsamkeitsministerium eingerichtet, das sagt ja auch schon alles. Aber gleichzeitig, wenn dann eben versucht wird, das zu substituieren, indem man Kuschelpartys einrichtet oder eben alte Leute auch von den Pflegern angefasst werden sollen, ist man ja auch schon bei der Ambivalenz. Denn das kann ja schnell kippen, wenn da nicht bestimmte Regeln beachtet werden. Tun Berührungen nur gut, wenn sie nach bestimmten Spielregeln ablaufen?
von Thadden: Ich glaube, die Ambivalenz ist eigentlich, was im Kern der Sache steht. Denn niemand würde sich wünschen, dass man wieder in eine Epoche der unfreiwilligen Berührung zurückkehrt. Es ist natürlich eine der großen Errungenschaften der Moderne, dass unfreiwillige Berührung geächtet ist. Wenn man an all die Gesetzgebungen denkt, die von der Vergewaltigung in der Ehe bis zur Körperverletzung, aber natürlich auch die Prügelstrafen von Kindern – also Verhaltensweisen ächtet, die wir uns heute im Grunde gar nicht mehr als alltagsbestimmend vorstellen können und wollen, das ist eine große Errungenschaft.
Und deswegen liegt mir auch so sehr daran, von der Philosophin Martha Nussbaum zu erzählen, die im Rahmen der Menschenrechte immer wieder darauf insistiert, zu sagen, die freiwillige Nähe, die angstlose Nähe zu den Menschen, mit denen wir zusammenleben, das ist eigentlich das, was man unter körperlicher Unversehrtheit verstehen kann und sollte. Und man kann, glaube ich, sagen, dass wir daran heute so nahe sind in unserer Spätmoderne wie vielleicht noch nie.
Und ich würde einfach nur immer dafür plädieren, diese große Errungenschaft zu schätzen und sich bewusst zu halten. Das ist die eine Seite der Sache. Die andere Seite der Sache ist natürlich, dass da eine Überregelung der Berührung …
Die beruhigende Wirkung der Berührung
Gerk: Genau das hatte man ja bei #MeToo jetzt, dass man gesagt hat, da müssen wir jetzt quasi, wenn wir Sexualverkehr haben, vorher einen Vertrag aufsetzen. Das kann ja auch nicht so die Lösung sein.
von Thadden: Das Phänomen schillert. Ich finde, man sollte, wenn man sich Sorgen macht um die Verrechtlichung im Zusammenhang der MeToo-Debatte, sollte man ruhig aber auch dazusagen, dass natürlich die sexuelle Berührung die gesamte bürgerliche Epoche hindurch immer rechtlich geregelt war. Man muss sich ja bloß in Erinnerung rufen, dass noch vor 50 Jahren die Rechtsprechung festgelegt hat, dass eheliche Pflichten beinhalten, dass man sich als Frau anfassen lassen muss und Wohlwollen sogar simulieren muss, dass es zu den Aspekten der Opferbereitschaft gehört, das war bis vor Kurzem noch geltendes Recht und nicht Fantasie.
Also mit anderen Worten, die Gesetzlichkeit der Berührung begleitet uns schon seit sehr langer Zeit oder die Rechtsförmigkeit. Und trotzdem kann man sich gegenwärtig Sorgen machen, ob es so was wie Überregulierungen gibt, die dazu führen, dass man vor Berührungen zurückscheut, die letztlich vielleicht doch einfach eher das Gedeihliche, das Wohlmeinende, das Wohltuende bedeuten.
Ich weiß nicht, wer den Film "303" vor Augen hat, diese herrliche Szene, wo die beiden Hauptdarsteller Jan und Jule in ihren Neoprenanzügen beieinandersitzen, bevor sie sich zum ersten Mal küssen. Man merkt daran, wie hoch der Schutzwall ist, der gegenwärtig vor der Berührung liegt und steht. Und dann sagt der Hauptdarsteller den netten Satz, dass eine zärtliche Berührung die Stresshormone, hunderte von ihnen, killen kann. Das ist, glaube ich, die Ambivalenz. Der Schutzwall und die Neigung dazu, trotzdem zu wissen, dass die Berührung gedeihlich und wohltuend sein kann. Und auf diesem Grat wandern wir.
Die Überregulierung ist sicherlich die Negativperspektive, vor der man stehen könnte. Aber auf der anderen Seite steht so etwas wie die Möglichkeit, in einer Gesellschaft zu leben, in der freiwillige Nähe zur Selbstverständlichkeit geworden ist und diese Selbstverständlichkeit genossen werden kann.
Gerk: Elisabeth von Thadden, vielen Dank für dieses Gespräch! Und das Buch, über das wir gesprochen haben, ist unter dem Titel "Die berührungslose Gesellschaft" beim Verlag C.H. Beck erschienen. 206 Seiten kosten 16,95 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.