Körperkult am Kanal

Von Elisabeth Nehring |
Der Direktor der internationalen Tanz-Biennale in Venedig, der Brasilianer Ismael Ivo, präsentiert am Canale Grande nicht nur die vielfältige Welt modernen Tanzes. Zu Beginn ließ er Indios ihr tägliches Körperkultritual zelebrieren. Ivos eigenes Eröffnungsstück jedoch konnte nicht überzeugen.
Der Anblick ist großartig: Vor der rot und gelb beleuchteten Freiluft-Kulisse im hinteren Teil des Arsenales, der ehemaligen Schiffswerft und Waffenschmiede Venedigs, lodert direkt am Wasser ein einsames Feuer. 16 Indios vollziehen hier ihr Ritual: zu Beginn in ganz schlichten Kreisläufen um das Feuer, in unterschiedlichen Tempi und von wenigen Bewegungen im Stand unterbrochen. Schließlich federngeschmückt und mit Körperbemalung. Ruhe und Konzentration sind die vorherrschenden Empfindungen, die dieses Ritual hinterlässt - keineswegs entsteht hier der Eindruck von "Klischee-Wilden", die das erste Mal aus dem Urwald herauskommen.

Dennoch beschleicht einen leise das Bild der Völkerschauen des 19. Jahrhunderts, in denen außereuropäische Kulturen der Betrachtung durch ein europäisches Publikum freigegeben wurden. Ein echtes 'Verständnis' kann sich hier ohne Vorwissen kaum einstellen, und es gibt keinen Kontext, auf den man das Ereignis beziehen könnte. Ismael Ivo, selbst Choreograph, hat als Festivaldirektor und Kurator die Indios eingeladen.

Ismael Ivo: "Ich wollte unbedingt eine Gemeinschaft einladen, die auch heute noch sehr nah an ihrer Körperkultur lebt, am Körperkonzept, an der Idee des Körpers. […] Die Indios mit ihren täglichen Körperritualen tun das. Und als ich sie hier in Venedig gesehen habe, war ich sehr froh, denn sie haben keine Performance vorgeführt. Jemand aus dem Publikum kam zu mir und fragte, warum sind sie danach nicht zum Applaus gekommen? Weil sie einfach ihr gemeinschaftliches Ritual vollzogen haben, wie jeden Tag. Das war keine Vorstellung."

Das Ritual der Indios eröffnete die Biennale di Danza, zusammen mit einer Uraufführung von Ivo selbst: Seine Tanztheaterproduktion 'Erendira' ist inspiriert vom magischen Realismus des kolumbianischen Autors Gabriel Garcia Marquez und erzählt Geschichten von Liebe und Askese, von der Dominanz der Mütter, der Leidenschaft der Töchter und der Entsagung junger Männer.

Auch hier besticht vor allem wieder die Umgebung: Die alten Steingemäuer sind wirkungsvoll illuminiert, die leicht staubige Bühne liegt im Halbdunkel und zwischen rohen Holzgerüsten hängen unzählige Vogelkäfige mit zwitschernden Piepmäzen.

Ja, hier könnte sich ein magisches Theater abspielen, doch nur in einigen Momenten gelingen dem Choreographen tatsächlich poetische oder surreale Bilder wie das einer jungen Frau, die stumm im Kreis herumtänzelt und dabei von einer furchtbar dicken Alten an einer langen Leine gehalten wird, während ihr Partner in einem schmerzhaft-furiosen Solo explodiert.

Ismael Ivo: "Ich sehe mich künstlerisch ganz und gar in der Tradition des deutschen Tanztheaters und bin zum Beispiel viel stärker mit Kresniks choreographischem Theater verbunden als mit meinen so genannten "brasilianischen Wurzeln". Ich beziehe z. B. häufig Literatur oder Theaterelemente mit in meine Arbeiten ein. Wie ich selbst sind viele nicht europäische Choreographen nach Europa emigriert, und haben, getrennt von ihren kulturellen Wurzeln, angefangen, sich in eine ganz eigene Richtung zu entwickeln. Diesen vielfältigen und sich überlagernden kulturellen Einflüssen in einer künstlerischen Arbeit wollte ich in meinem Biennale-Programm Rechnung tragen."

Trotz einzelner gelungener Momente kann die Gesamtkonzeption des Eröffnungsstückes nicht überzeugen: Zu dick aufgetragen sind die Konflikte zwischen Ehre und Liebe, zu eindimensional die choreographische Struktur und vor allem: Zu groß sind die Unterschiede zwischen den Tänzern. Während die Männer atemberaubend virtuos und ausdrucksstark zu tanzen verstehen, wirken die drei jungen Tänzerinnen fast hölzern und in den technisch schwierigen Partien überfordert.
Zum Reinfall wurde der Abend des zeitgenössischen Tanztheaters aus Kuba unter der Leitung Jan Linkens. Man kann es nicht anders sagen: der holländische Choreograph kreiert mit seiner Uraufführung "Compas" nicht nur dekorative Pseudo-Folklore, sondern missbraucht die hervorragenden kubanischen Tänzer geradezu.

Mambo und Samba sollen kubanische Erotik produzieren, und die bedauernswerten Tänzer müssen die Zuschauer zum Mitmachen animieren. Eine Moderatorin dirigiert dazu eine Tänzerin auf den Schoß eines älteren Herren und mimt anschließend das willige Opfer männlicher Leidenschaft. Suggeriert wird: eine Frau, die nein sagt, meint eigentlich ja. Dümmer und sexistischer geht's kaum mehr.

Die Platzierung dieses Abends im Rahmen der Biennale di Danza ist ein Ärgernis, aber auch ein Rätsel, denn das Programm der noch folgenden Wochen weist durchaus hochkarätige und seriöse Namen auf: Louise Lecavalier und Marie Chouinard aus Kanada, die Afrikanerin Beatrice Kombe sowie die deutsche Choreographin Helena Waldmann, die unter immensen Schwierigkeiten in Teheran mit iranischen Frauen ein Stück von zweifellos politischer Dimension erarbeitet hat. Festivaldirektor Ismael Ivo über sein Programm:

"Besondere Aufmerksamkeit habe ich dem geschenkt, was wir den ‚globalen Körper’ nennen. Auch und gerade im Tanz gibt es einen ungeheurer schnellen Austausch an Informationen: viele Choreographen z.B. arbeiten mit afrikanischen, brasilianischen, russischen, europäischen Tänzern zusammen – diese neue und sehr weit verbreitete Mischung aus ganz unterschiedlichen Nationalitäten, Charakteren, Energien schafft einen neuen Ausdruck und ein neues Vokabular im Tanz. Ich habe das Programm auf diesen Aspekt hin konzipiert."

Die Biennale di Danza ist die Junior-Disziplin im Rahmen der renommierten Biennale di Venzia und will sich ausdrücklich mit ihr in Beziehung setzen. Mit Ismael Ivo hat sie einen ambitionierten Direktor mit unzähligen internationalen Kontakten. Doch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass im diesjährigen Programm die Fallhöhe zwischen den einzelnen Produktionen zu groß ist, um dieses Festival zu einem von überragender internationaler
Bedeutung zu machen.

Service:
Biennale die Danza bis 2. Juli 2005 in Venedig
Der brasilianische Tänzer und Choreograf Ismael Ivo
Der brasilianische Tänzer und Choreograf Ismael Ivo© AP Archiv