Wie Sport hilft, Körper und Seele zu heilen
Sport hält nicht nur gesund, er kann auch gesund machen. Ob Diabetes, Depression oder Krebs: Körperliche Aktivität wird immer mehr als zusätzliches Heilmittel bei der Behandlung von Krankheiten eingesetzt. Doch es gilt, Maß und Mitte zu finden.
Es sind unterschiedliche Motive, die Lust auf den Sport machen. Der Internist Fernando Dimeo:
"Für die meisten Menschen ist es nicht so, dass sie sich besser fühlen, weil sie Sport treiben. Sondern sie hören auf, sich schlecht zu fühlen. Weil sie sich den ganzen Tag nicht bewegt haben. Sobald wir uns bewegen können, fühlen wir uns besser. Ich versuche es auf jeden Fall, immer wieder einzubauen. Und selbst wenn ich jetzt nicht Radfahren oder Schwimmen gehe, versuche ich halt, viel zu Fuß zu machen, mit den Hunden zu laufen, zu gehen."
Der Antrieb, sich zu bewegen:
"Die meisten fangen mit dem Sport an, weil sie abnehmen wollen. Aber warum die Menschen dabei bleiben, ist, weil es ihnen Spaß macht. Meistens weil sie dadurch den Bewegungsmangel ausgleichen. Es kann sein, auch ein Erlebnis in der Gruppe. Es kann auch sein, dass sie einfach eine Herausforderung suchen."
(Frau/Mann:) "Diese Regelmäßigkeit ist ganz gut. Und dass man nicht alleine ist und ne feste Gruppe hat." – "Das trägt einen so ein bisschen. Dann ist man nicht die ganze Zeit mit sich im Kopf allein, sondern hat die anderen um sich, Und ich denke, das hilft."
Sport setzt Glücksgefühle frei
Das Wohlbefinden und der Wunsch, auch weiter zu machen, sind zwei weitere Motive, Sport zu treiben. Zu den Folgen sportlicher Bewegung sagt der Arzt:
"Sie haben ein Glücksgefühl. Und das hat mit höchster Wahrscheinlichkeit mit der Freisetzung von Wachstumsfaktoren und Botenstoffen im Gehirn zu tun. Es lässt sich nicht messen. Es passiert irgendetwas möglicherweise im Gehirn, vielleicht auch in der Muskulatur, also Wachstumsfaktoren von der Muskulatur, die auch im Gehirn landen und genau dieselben Effekte hervorrufen."
(Frau:) "Dass ich aufs Laufband gehe und weiß, in dieser Zeit kann ich meinen Kopf frei ziehen lassen, und da durchdenke ich alles. Und ich steige vom Laufband und bin frei."
Der Berliner Internist und Sportmediziner Dimeo ist ein Spezialist für Gesundheitssport. Er sieht die Vorteile der körperlichen Aktivität.
"Aber zu erwarten, egal was ich tue, werde ich mich danach wohl fühlen, werde ich mich besser fühlen, werde ich leistungsfähiger sein, werde ich fitter, werde ich gesünder. Das ist falsch. Man kann übertreiben, man kann untertreiben, man kann das Falsche machen."
Sich zu bewegen, körperlich aktiv zu sein, zu laufen, klettern, rudern, tanzen oder auch einen Mannschaftssport zu betreiben, kann ein großer persönlicher Gewinn sein. Sport löst in den Menschen körperliche, organische und psychische Effekte aus und deren Wirkung wird immer detaillierter untersucht und zielgerichtet eingesetzt. Von der positiven Wirkung des Sports können Gesunde profitieren, aber auch Kranke. Der Körper reagiert – man wird belastbarer, fühlt sich weniger müde. In allen Dingen.
Kann körperliches Training eine Tumorbildung hemmen?
Darüber hinaus kann ein gezieltes und regelmäßiges Training sogar vielen Erkrankungen entgegen wirken, sie mildern oder sogar verhindern. Ein paar Beispiele:
- Herz- oder Lungenpatienten durchbrechen einen Teufelskreis – sie würden ohne Bewegung noch mehr Kondition verlieren.
- Bei einer Lungenerkrankung verbessert sich das Zusammenspiel von Kreislauf und Sauerstoffversorgung.
- Nach einem Herzinfarkt nimmt durch ein Training die Anzahl von Gefäßen im Herzmuskel zu, so dass dieser besser durchblutet wird.
- Zeigen die Gelenke Verschleißerscheinungen, wird durch das Bewegen die Struktur rund um das Gelenk herum gefestigt. Die Gelenke sind dann insgesamt wieder belastbarer.
- Sporttreibende Diabetes-Patienten können möglicherweise ganz auf Insulinspritzen und Tabletten verzichten.
- Angemessene Bewegung hilft Krebskranken oft, eine Bestrahlung oder Chemotherapie besser zu tolerieren. Es gibt auch Hinweise, dass körperliches Training sogar eine Tumorbildung hemmen kann.
- Oder eine Alzheimer-Erkrankung verschieben, womöglich hinauszögern.
Viele dieser Effekte sind bereits aufgetreten und müssen nun weiter erforscht werden, damit Ärzte oder Therapeuten eine Sportart und deren Dosis noch gezielter verordnen können. Grundsätzlich gilt körperliche Aktivität jedoch schon heute als sinnvolles zusätzliches Therapeutikum neben der Einnahme von Medikamenten oder anderen Methoden, als eine hilfreiche Ergänzung mit Heilkraft.
Bei der Behandlung psychischer Erkrankungen zeigt sich dieser Nutzen immer wieder besonders deutlich. Denn viele der betroffenen Patientinnen und Patienten fühlen sich zunächst kaum in der Lage dazu, überhaupt irgendeine Leistung zu erbringen. Umso wichtiger ist dann, bei einer körperlichen Anstrengung genau darauf zu achten, welchen persönlichen Gewinn sie erzeugt – um den Einsatz und seinen Ertrag gut miteinander abzugleichen.
Klettern gegen psychische Probleme
Drei Jungen bei ihrer Kletter-Therapie. Sie sind gerade stationär in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht, in der Klinik Landschaftsverband Rheinland in Bonn.
Der Sportwissenschaftler Till Thimme spornt die Jungen an. Entweder ermuntert er oder er bremst.
"Sehr gut, Cedric. Ich finde, du machst das klasse, und du gewöhnst dich Schritt für Schritt wieder an die Höhe. Bist du bereit, Jakob? Und wenn du den Eindruck hast, du kommst gar nicht weiter, Jakob, dann rufst du Tipp! Und dann hilft der Lasse weiter, und du musst dann bei dem Tipp drauf achten, dass du ihm zurufst zum Beispiel, linker Fuß auf Kniehöhe oder rechter Fuß nach außen."
Der eine klettert, der andere sichert. Cedric, Jakob und Lasse tauschen laufend reihum die Rollen und Aufgaben. Sie sind zwischen acht und dreizehn Jahre alt, der eine zart und schüchtern, der andere engagiert, aber zurückhaltend, der dritte sehr energiegeladen.
"Oh, Lasse, ich glaube, du hast dir zu viel vorgenommen."
"Warum?"
"Na, weil du rumkrebst jetzt schon seit zehn Versuchen. Scheint mir ein bisschen schwierig, was du dir da vorgenommen hast."
Ihre psychischen Probleme haben mit Schulangst und Höhenangst zu tun, mit ihrer Selbsteinschätzung und ihrem Selbstvertrauen und auch damit, dass sie Schwierigkeiten im Umgang mit anderen haben. Auf Wunsch der Eltern sollen die Krankheitsbilder der Jungen nicht im Einzelnen erklärt werden. Der Sporttherapeut Till Thimme möchte, dass die Drei in ihrer schwierigen Lebensphase nun entdecken, was ihnen das Klettern bringt. Alleine und auch miteinander.
(Cedric und Jakob:) "Vielleicht erst die Hände."
"Dann erst deinen rechten Fuß, das geht sonst nicht... Und jetzt deine rechte Hand schräg hoch, andere Seite. Da muss dich durchstrecken.
"Bin ich hoch?"
"Ja, fast ganz oben. Tief durchatmen."
Das Klettern fordert heraus.
- Motorisch: beim Greifen, Hangeln, Stützen und Stemmen. Um an der Wand die Hände und Füße zu koordinieren und sich auch mal drehen zu können, braucht man außerdem Kraft und Ausdauer.
- Kognitiv: Man muss sich die Kletterroute genau überlegen und sich und die eigenen Kräfte gut einschätzen, Probleme lösen und flexibel reagieren.
- Emotional: Da es hoch hinaus geht, erzeugt dies Unsicherheit und Angst. Die Kinder müssen damit umgehen. Auch mal um Hilfe bitten. Oder selbst einen Tipp geben. Einen anderen zu sichern, bedeutet Verantwortung zu übernehmen, sich an Regeln zu halten, einander zu vertrauen.
Mit Klettern die Höhenangst überwinden
An der Wand sind die Kletterer allerdings auch mit sich allein – und alle sehen das.
Isoliert und exponiert an der Kletterwand zu sein, ist für die drei Jungen eine große Herausforderung. Der Therapeut nutzt sie:
"Denn es geht hier nicht um Leistung, es geht hier nicht um ein Ergebnis, sondern an erster Stelle um ein Erlebnis rund um die Erfahrung für den Patienten, für das Kind, für den Jugendlichen. Was von dem, was du hier erfahren und erlebt hast, was von dem, was du darüber über dich selbst verstanden hast, über dich, deine Kompetenzen, deine Ressourcen, deine Problemlösestrategien – was von dem kannst du denn gut mit in den Alltag nehmen?"
Lasse, Cedric und Jakob lassen diese Kletterstunde gleich im Anschluss noch einmal Revue passieren.
- "Das Blindklettern fand ich lustig. Außerdem bin ich ziemlich erschöpft und immer noch froh vom Klettern. Außerdem bin ich bisschen sauer, dass ich die Route nicht geschafft hab. Und ich denke: Gelbe Route, ich krieg dich noch mit."
"Ich fand heute, dass ich mich gefreut hab, dass ich's bis oben geschafft hab mit Augen zu."
"Ich bin glücklich, weil ich mit zugebundenen Augen wieder geklettert bin, einen freien Fall gemacht hab und gesichert habe."
Dann denken die Drei noch ein bisschen über das Klettern an sich nach:
"Dass man beim Klettern auch merkt, dass einem nichts passieren kann, wenn man fest alles gesichert hat. Und dann braucht man keine Angst zu haben, dass man vielleicht runterfällt. Wenn man halt weiß, dass einem nichts passiert, das ist gut. Davon kriegt man auch die Höhenangst weg."
"Ich fühl mich nach dem Klettern stärker und mutiger. Dass es in der Schule gut klappt."
"Ich denke, das macht mich irgendwie ein bisschen selbstsicherer. Im normalen Alltag Ehrgeiz und Selbstvertrauen wär schon wichtig. Weil da sonst immer nicht so viel da war. (leise) Aber ich weiß nicht bei meinem Hauptproblem, ob mir das so helfen kann."
"Das finde ich halt auch ein richtiger Sport. Halt nicht so wie nur Fußball oder Basketball."
Den richtigen Sport für die Krankheit finden
Unterschiedliche Sportarten berühren immer auch verschiedene therapeutische Themen, erklärt Till Thimme.
"Wenn ich an das Klettern denke, dann hat das auch mit Angst zu tun. Häufig. Und es hat auch was mit Verantwortung zu tun. Wenn ich jetzt an das Thema Kampfkunst denke, findet eine Form der Auseinandersetzung statt, zwischen mir und meinen eigenen Anteilen, aber auch zwischen mir und meinem Gegenüber. Grenzen, Nähe und Distanz. Mannschafts- und Bewegungsspiele. Wie finde ich die passende Rolle innerhalb der Mannschaft? Wie verschaffe ich mir Überblick in komplexen Spielsituationen? Was bringt das Thema Gewinnen und Verlieren mit sich?"
Beim therapeutischen Einsatz, so Thimme, gelte jedoch der gleiche Grundsatz wie überall im Sport: Wer welchen Effekt erlebt, dies bleibt eine persönliche Erfahrung. Was bei wem wie wodurch unter welchen Umständen wirkt, lasse sich nur begrenzt verallgemeinern.
"Weil, aus meiner Sicht sollten wir nicht vergessen, dass die Klienten oder Patienten Experten für ihr eigenes Leben sind und sein sollten."
Wer also von Bewegung profitieren möchte, muss sich immer auch selbst ausprobieren, Verschiedenes testen und ganz eigene Erfahrungen sammeln. Ein notwendiger Prozess für alle, sagt der Internist Fernando Dimeo. Denn nur dann kann am Ende auch ein Gewinn stehen.
Laufen gegen die Depession
"Man behauptet, die Menschen, die sich besser fühlen, nachdem sie Sport treiben, wissen, wie sie das tun."
Genau das habe sie gelernt und damit ihr Leben verändert, erzählt die Berlinerin Anja Haß und setzt sich vor ihrer ehemaligen Klinik auf eine Parkbank. Anja Haß erkrankte 2013 an einer schweren Depression und wurde nach einigem Hin und Her am Ende ohne Aussicht auf Heilung oder Besserung aus der Psychiatrie entlassen. Medikamente halfen ihr nicht mehr.
"Ich habe entschieden, dass ich in ein Fitnessstudio gehe und auf ein Laufband gehe und das zwei Wochen lang mache, jeden Tag. Und dann hab ich das probiert – eigentlich auch, um mir zu zeigen, dass es nicht klappt. Weil ich nicht dran geglaubt habe. Und nach zwei Wochen stellte ich fest: Mir geht es wirklich besser."
Was sie zuvor in einer Walking-Gruppe überhaupt nicht erlebt hatte, stellte sich plötzlich im Studio ein, erzählt die 43-jährige zweifache Mutter.
"Die Probleme, die ich in meinen Gedanken gewälzt habe, habe ich beim Laufen weiterhin gewälzt. Nur als ich vom Laufband runter stieg, waren die viel kleiner. Die waren noch da, aber die fühlten sich nicht mehr so schwer an. Ich war leichter, ich war unbekümmerter, ich habe freudvolle Momente gehabt. Und dann habe ich das jeden Tag gemacht. Wahrscheinlich hilft mir diese Bewegung auch nur, die Gedanken anders zu bewerten, als wenn ich mich nicht bewegen würde. In dem Moment, wo ich ein Problem wälze auf dem Laufband, ist es für mich ein schlimmes Problem. Durch das Laufen wird es leichter."
Maß und Mitte finden
Anja Haß lief einfach los, am Anfang schaffte sie in einer Stunde fünf Kilometer. Dann spürte sie plötzlich, dass sie mehr brauchte und lief doppelt so schnell. Später war wieder so viel Vollgas nicht unbedingt nötig.
"Das sind Erfahrungswerte, die ich gesammelt habe in den letzten Jahren. Was mir gut tut, was ich brauche. Wenn ich merke, ich kriege Gedankenkreisel – das könnte jetzt ein Problem sein, was auf mich zu kommt, das mich wieder runter zieht, dann weiß ich, muss ich stärker laufen."
Heute sagt die ehemalige Lehrerin rückblickend: Noch kein einziges Mal sei es ihr nach dem Laufen nicht gut gegangen.
"Am Schwitzen merke ich, wie stark das meinen Körper jetzt belastet, was ich grade mache. Und so ein bisschen sehe ich auch ne Verbindung zur körperlichen Belastung: Je stärker die ist, desto größer ist die psychische Erleichterung."
Ihren Psychiater sieht Anja Haß inzwischen nur noch alle drei Monate. Er ermuntert sie dann stets dazu, nicht aufzuhören. Daran hält sich die Patientin. Manchmal spürt sie schon leichte Schmerzen in den Gelenken oder auch im Rücken.
"Aber ich weiß auch, um psychisch gesund zu bleiben, ist das mein Mittel. Und deshalb überwinde ich diese körperlichen Grenzen. Ich hab mir schon Gedanken darüber gemacht, ob das nicht ne Sucht ist. Die sich dahinter verbirgt. Und auch probiert: Wie oft brauche ich das Laufen? Und bin jetzt ganz gut damit unterwegs, das nicht mehr täglich zu machen, sondern so vier, fünf Mal die Woche. Und an den Tagen, wo ich nicht laufen gehe, komme ich, was meine Krankheit angeht, gut klar."
Wie erkennt man eine Sportsucht?
"Ein Indikator für eine Sportsucht ist eine permanente Dosissteigerung."
Der Erlanger Psychologe und Sportwissenschaftler Heiko Ziemainz.
"Ich brauche meinen Stoff, und dem muss ich nachkommen. Egal zu welcher Tages- und Nachtzeit, egal, was ich dafür sozusagen opfern muss. Sei es denn auch stärker familiäre oder berufliche Probleme oder auch körperliche Probleme. Das ist mir in dem Fall alles egal. Das ist bei den anderen eigentlich so nicht, weil da wird im Regelfall frühzeitig die Reißleine gezogen. Und dann steht der Sport hinten an und die anderen Dinge bekommen eigentlich eine höhere Priorität."
Eine Erlanger Studie zeigte 2013, dass weniger als ein Prozent der Sporttreibenden tatsächlich an einer so genannten primären Sportsucht leiden. Trotzdem sollte man, so Ziemainz, immer auf die einschlägigen Kriterien achten. Denn suchtgefährdet – auch das zeigte die Studie – seien immerhin etwa 4,5 Prozent derjenigen, die einen Ausdauersport betreiben.
- Werde ich unruhig und nervös oder habe ich gar Schuldgefühle, wenn ich mein Pensum heute noch nicht absolviert habe?
- Gehe ich lieber laufen, als die Kinder von der Schule abzuholen?
- Ignoriere ich wunde Füße oder Schmerzen oder sogar eine Verletzung?
- Ist es mir egal, dass ich mich eigentlich nach einer Belastung immer auch erholen sollte. Will ich stattdessen mein Training kontinuierlich steigern?
- Denke ich während der Konferenz ständig daran, wann ich denn heute endlich wieder loslegen kann?
Treffen solche Kriterien zu, kann der Sport auch zu einem Ventil werden, um ganz anderen Problemen davonzulaufen oder sie für einen Moment quasi in den Griff zu bekommen.
Esstörungen können sekundäre Sportsucht auslösen
"Als Zweites gibt es dann noch die sogenannte sekundäre Sportsucht. Im Regelfall sind wir dann... bei Essstörungen. Die eigentliche Grunderkrankung ist die Essstörung – da ist der Sport dann Mittel zum Zweck, um viele Kalorien zu verbrennen."
Heiko Ziemainz begrüßt eine junge Frau Anfang Zwanzig. Die beiden hatten bereits einen kurzen Kontakt per Mail, und die Besucherin bat den Sportpsychologen um ein kurzes Beratungsgespräch. Sie möchte anonym bleiben und erzählt, sie gehe laufen, schwimmen und ins Fitnessstudio – und fühle sich einfach zu dick. Dieses Gefühl sei immer da. Ziemainz hakt nach.
"Und der Sport – ist das aus Ihrer Sicht dann so Mittel zum Zweck oder verbinden Sie damit noch andere Dinge?"
Die junge Frau schüttelt den Kopf. Eigentlich mache sie ja schon so viel – aber irgendwie reiche ihr das nie. Es ändere ja nichts daran, dass sie einfach so dick sei.
"Weil sie mir jetzt auf mehrere Nachfragen immer wieder bestätigt haben, dass alles eigentlich um das Dicksein sich kreist, darum möglichst abzunehmen, einem gewissen Ideal auch, was den Körper angeht, nachzueifern, dass ich sie gern dann doch an einen Kollegen, eine Kollegin verweisen möchte, die sich explizit mit Essstörung auch auseinandersetzt. Von einer primären Sportsuchterkrankung würde ich jetzt erstmal nicht sprechen. Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, was jetzt da das richtige Maß ist oder nicht."
Ein guter Gradmesser: das eigene Körpergefühl
Man muss sich selbst hinterfragen: Hat mich der Sport im Griff oder ich den Sport? Manche halten das Thema Sportsucht oder auch Sportabhängigkeit für extrem unterschätzt oder belächelt und verharmlost. Sportlich durchtrainiert und schlank und fit zu sein, ist gesellschaftlich sehr angesehen. Den Sport als "Mittel zum Zweck" zu missbrauchen, ist außerdem einfach: Der "Stoff" ist immer zu haben, das Weitermachen und Übertreiben kann sich allerdings sehr schnell verselbstständigen. Es gilt daher, vor allem die Anfangsphänomene genau im Blick zu behalten.
Das Hauptmotiv für ein Übermaß an Sport ist bei Frauen meist die Figur. Männern geht es eher um die körperliche Leistung.
Diesen Motiven sollte ich nicht zwanghaft hinterher laufen. Einerseits sollten mich keine psychischen Probleme antreiben. Andererseits muss ich mich an meinem Körpergefühl orientieren. Muskelkater ist ein guter Indikator und in Ordnung. Wenn ich mich aber tagelang nicht mehr bewegen kann oder wenn ich nach zehn Minuten Ausdauertraining schon völlig kaputt bin, dann war es definitiv zu viel. Dann laufe oder radle ich so langsam, dass ich das eine halbe Stunde lang aufrecht erhalten kann. Wenn ich dagegen zu schnell trainiere oder mir zu viel vornehme, verliere ich außerdem schon nach wenigen Tagen einfach die Lust und Freude daran.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt: 10.000 Schritte pro Tag im Alltag sind angemessen und drei Einheiten à 30 Minuten Ausdauertraining pro Woche erstrebenswert.
Und der Internist Fernando Dimeo ergänzt:
"Es gibt gewisse Prinzipien: Alles, was man mit Ehrgeiz unternimmt, wird zu viel. Wenn man was erreichen will, unbedingt und partout, und manche Regeln, einfache Regeln nicht einhält, wird man Probleme haben. Wenn man sich keine Zeit nimmt, wenn man ungeduldig ist. Wenn man einfach den Menschenverstand ignoriert."
Hier die Balance zu halten, ist gar nicht so einfach. Das kennt auch Bernd Zimmermann.
"Ja, also, mein Verhältnis ist auch so ein bisschen ambivalent oder zwiespältig. Man kann auch übertreiben!"
"Laufen für die Seele" - ein Schritt aus der Depression
Bernd Zimmermann hat sich vor einigen Jahren der Gruppe "Laufen für die Seele" angeschlossen. Einmal wöchentlich treffen sich dazu ehemalige oder aktuelle Psychiatriepatientinnen und -patienten in der Berliner Charité, um von dort aus eine Runde durchs Regierungsviertel zu joggen.
"Also, normalerweise ist es so, dass man, wenn man jetzt außer Puste ist, dass man sich zwischendurch auch Gehpausen gönnt. Das mach ich eigentlich auch. Aber man kann natürlich auch übertreiben! Und dann ist es sicher nicht mehr so gesund. Man muss halt auch ein bisschen selber gucken. Ob man jetzt vielleicht doch zu schnell ist oder so. Also, wenn man hinterher eher kaputter ist, dann hat man vielleicht zu viel gemacht!"
Die Gruppe "Laufen für die Seele" ist eine der Initiativen des Berliner Universitätsklinikums, den besonderen Nutzen des Sports stärker in die Behandlung und in den Alltag von Patienten mit einer psychischen Erkrankung zu integrieren. Professor Andreas Ströhle setzt sich sehr dafür ein, er leitet an der Charité die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Ströhle kooperiert für die Laufgruppe mit dem Berliner Sankt-Hedwig-Krankenhaus – und in der Forschung deutschlandweit mit anderen psychiatrischen Zentren. Aktuell etwa mit der Studie "SAD – Schritte aus der Depression".
"Dabei wird untersucht, inwiefern die Gabe von Pedometern an Menschen mit einer Depression und die gleichzeitige Aufforderung, die tägliche Schrittzahl zu erhöhen, zu einer vermehrten Aktivität führt, damit idealerweise auch zu einer Besserung von Depression und Angst und idealerweise zu einer verkürzten Behandlungsdauer bei einer schweren Depression."
Beeindruckende Erfolgsgeschichten bei Krebserkrankungen
Gerade haben US-amerikanische Kardiologen in einer Studie gezeigt: Menschen mit einem hohen Herzinfarkt-Risiko senken durch Sport genau diese Gefahr – und zwar stärker als Menschen mit einer mittleren Vorbelastung. Gerade wenn man sich für besonders schwach hält, kann man sich also durch Bewegung stärken.
Eine Brustkrebspatientin nahm während der Chemotherapie ihren ganzen Mut und die noch verbliebene Kraft zusammen und begann mit dem Laufen.
"Weil, die Chemo macht einen ja ziemlich fertig und Knochen und überall Schmerzen. Und entweder man stellt sich dem und geht dagegen an oder man gibt auf. Ich denke, die Bewegung und das Laufen, also auch den Körper fordern, auch während der Chemo, hat meinem Körper gut getan. Also, ich hab mich besser gefühlt. Die Schmerzen und all das waren nicht so schlimm. Und so lange ich laufen konnte, dachte ich, dann wird’s wohl gehen."
Eine andere Patientin wollte durch Bewegung lernen, die Krebserkrankung zu akzeptieren.
"Ich habe mir gedacht, es wird mir körperlich gut tun, es wird mir auch seelisch gut tun. Man wird auch innerlich so ärgerlich auf den eigenen Körper. Und ich hatte die Hoffnung, dass das Laufen mich wieder so ein bisschen versöhnt mit mir, sieht, dass da noch so gewisse Reste an Leistungsfähigkeit sind, die aktiviert werden können und natürlich hab ich mich auf einfach auf die Gruppe gefreut."
Solche Erfolgsgeschichten sind beeindruckend – und noch viel zu wenig bekannt, findet der Psychiatrie-Professor der Charite, Andreas Ströhle.
"Ähnlich wie bei anderen Grundbedürfnissen wird dem Menschen was fehlen, wenn dieses Grundbedürfnis auf Bewegen, auf körperliche Aktivität nicht befriedigt wird."