Kohei Saito: "Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus"

Karl Marx als Kronzeuge der Grünen

Buchcover zu "Systemsturz"  von Kohei Saito
© dtv

Kohei Saito

Gregor Wakounig

"Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus"dtv, 2023

320 Seiten

25,00 Euro

Von Martin Tschechne |
Kohei Saitos marxistische Kritik am Kapitalismus in der Klimakrise hat in Japan einen Nerv getroffen. Mit seinem Buch „Systemsturz“ zeigt er einen ungewohnten Blick auf Marx, der bei ihm als möglicher Kronzeuge der Grünen erscheint.
Es war die Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011, die den Japaner Kohei Saito auf so etwas aufmerksam machte wie den sprichwörtlichen Elefanten im politischen Diskurs – auf ein Phänomen also, das so überdeutlich im Raum stand, dass niemand es zu sehen schien. Wie kommt es, so fragte sich der damals gerade 24 Jahre alte Student der Philosophie in Berlin, wie kommt es, dass kaum jemand auf die sehr direkte Verbindung hinweist zwischen den immer brutaler zutage tretenden Problemen der Ökologie – dem Klimawandel, der rücksichtslosen Ausbeutung von Ressourcen, den Ozeanen voller Müll – und der gemeinsamen Ursache all dieser Erscheinungen, nämlich dem kapitalistischen Wirtschaftssystem?

"Wir arbeiten zu viel. Wozu?"

Saitos Buch wurde also durch ein Ereignis in Japan angestoßen, nahm jedoch seinen Anfang in Europa. In der japanischen Heimat des jungen Wirtschaftstheoretikers schoss es dennoch – oder vielleicht gerade wegen dieser doppelten Perspektive – förmlich durch die Decke: Mehr als 500.000 verkaufte Exemplare eines bis dahin völlig unbekannten Autors.

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Den Erfolg begründete der im Gespräch mit der italienischen Zeitung La Repubblica sehr selbstbewusst: Seine Folgerungen lägen einfach auf der Hand: „Wir arbeiten zu viel. In Japan muss alles 24 Stunden geöffnet haben, sieben Tage die Woche – wozu? Wir können das zurückfahren: die Convenience Stores, Mode zum Wegwerfen, Fast Food. Wir können Privatjets verbieten, die kurzen Inlandsflüge, und die luxuriösen Kreuzfahrtschiffe einschränken, die SUVs, den Fleischkonsum reduzieren und so weiter.“
In Berlin war Saito auf die Schriften von Karl Marx gestoßen, war tief eingetaucht in die Forschung und fand sogar Aufnahme in das Herausgebergremium der großen Marx-Engels-Gesamtausgabe. Er wusste um die Prämissen der kapitalistischen Wirtschaft. Und ahnte wohl, welchen Mut es braucht, sie in Frage zu stellen.

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Er tut es trotzdem, mit Sätzen wie diesem: „Das Wirtschaftswachstum der Moderne versprach uns ein Leben im Wohlstand. Jedoch wird durch die Umweltkrise des Anthropozäns klar, dass es ironischerweise gerade das Wirtschaftswachstum ist, das die Grundlagen des menschlichen Wohlstands untergräbt.“

Vergessene Notizen von Karl Marx entdeckt

Wachstum ist das Elixier des Kapitalismus. Nur Wachstum vergrößert das Kapital. Bleibt es aus, ist Rezession die Folge: eine dramatische Vertiefung der sozialen Ungleichheit, Absturz der Mittelschicht, Arbeitslosigkeit und Radikalisierung. Umkehr aber, sinnvolle Reduktion – so etwas war in der Theorie einfach nicht vorgesehen. Und damit könnte die Geschichte eigentlich zu Ende sein.
Ist sie aber nicht. Karl Marx mag nach den Irrungen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts abgeschrieben worden sein, seine beinahe wie ein Naturgesetz respektierte Lehre von der Dynamik des Kapitals als untauglich abgehakt – Saito hält ihm die Treue. Der Mann sei einfach missverstanden worden: „Marx hatte mit dem Kommunismus eigentlich niemals eine staatlich verwaltete Einparteiendiktatur im Sinn. Für ihn bedeutete Kommunismus eine Gesellschaft, in der die Produktionsmittel von den Produzenten gemeinsam verwaltet werden. Doch nicht nur die Produktionsmittel, die ganze Erde sollte nach Marx’ Vorstellung einer kommunistischen Gesellschaft gemeinsam verwaltet werden.“
In den Archiven war Saito auf bislang unbekannte Notizen gestoßen. Marx war gestorben, bevor sie veröffentlicht werden konnten; seine Nachfolger glaubten, darin nur eine Verfälschung der reinen Lehre zu erkennen – denn er hatte ganz unerwartete Zweifel an seiner eigenen Formel geäußert: Sollten die Produktivkräfte des Kapitals sich tatsächlich ebenso gut zur Befreiung der Arbeiterklasse nutzen lassen? Nein, so notierte er nun, nachdem er den Kontakt zu den Naturwissenschaften gesucht und sich in ihre Befunde vertieft hatte: Die Natur werde dem fortgesetzten Raubbau durch das Kapital ihre Grenzen setzen.

Keinen Respekt vor niemand

Die Entdeckung war eine Sensation. Und Saitos Leser lernen einen ganz neuen Karl Marx kennen. Einen nämlich, der mit „Gemeinschaft“ auch wirklich die Gemeinschaft meint und nicht, wie es unter Berufung auf seinen Namen immer wieder geschah, eine selbst ernannte Kaste der Nomenklatur, die das Volk unter Berufung auf eine Ideologie unterdrückt.
Saito rückt das Bild wieder gerade – und erlaubt sich sogar noch den Spaß, seine Leser, vor allem die aus der gebildeten Mittelschicht, einfach mal mit dem neuen Marx zu konfrontieren: „Was machen Sie eigentlich gegen die Erderwärmung? Benutzen Sie nun auch eine eigene Einkaufstasche, um den Verbrauch von Plastiktüten zu reduzieren? Sind Sie auf ein Elektroauto umgestiegen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Diese guten Absichten alleine sind sinnlos. Das Kapital heuchelt uns Sorge um die Umwelt vor, und wir fallen auf dieses Greenwashing auch noch herein.“
Nein, Respekt kennt der junge Überflieger nicht. Nicht vor seinen Lesern, die gewiss immer nur das Beste wollen, nicht vor den Sachzwängen einer beständig drängenden Wirtschaft, und auch nicht vor den Doktrinen der Ökonomie – dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage, dem Green New Deal, also dem vorgeblichen Umschalten der Produktion auf Nachhaltigkeit. Augenwischerei, sagt er. Reförmchen zur Erhaltung des Systems. Marx sprach vom „Opium für das Volk“.
Haben wir das alles schon gehört? Vielleicht so ähnlich. Aber vielleicht nicht vor einem theoretischen Hintergrund, der die ewigen Verbote ersetzt durch Einsicht und eigenes Interesse. Karl Marx als Kronzeuge der Grünen: Das wäre mal ein spannender Beitrag zur Umweltdebatte.
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