Abrechnung mit Rot-Grün
Mit viel Presserummel und prominenter Unterstützung durch den EU-Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker hat Altkanzler Helmut Kohl sein Buch "Aus Sorge um Deutschland" vorgestellt. Darin zeigt er sich vor allem als leidenschaftlicher Europäer, zugleich aber auch als schlechten Verlierer.
Gestern hat Jean Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, es sich an seinem ersten Arbeitstag nicht nehmen lassen, Helmut Kohls Buch "Aus Sorge um Europa" in Frankfurt vorzustellen. Herr Schmitz, Sie waren da, wie muss man sich das Ganze vorstellen?
Zunächst ein fast theatralischer Auftritt, Helmut Kohl im Rollstuhl, begleitet von seiner Frau Maike, über 20 Kamerateams und mindestens so viele Fotografen. Da Helmut Kohl seit seinem Unfall vor sechseinhalb Jahren sich kaum noch klar artikulieren kann, stellte Jean Claude Juncker das Buch vor. Zugleich eine Hommage an Kohl, denn "Kohl ist das Buch und das Buch ist Kohl".
Kohl schaltete sich gelegentlich ein, schwer verständlich, aber der Wille, die Deutungshoheit über die eigene politische Leistung zu behalten, ist unverkennbar.
Europa in schlechtem Zustand
Was ist nun die Sorge, die Helmut Kohl umtreibt?
Dass Europa in keinem guten Zustand ist, dass es im Klein-Klein der nationalen Interessen an beherztem politischen Handeln fehlt, das das große Ganze in den Blick bekäme und Europa als Basis für Frieden und Freiheit versteht, eine Basis, die wir derzeit in Gefahr seien zu verlieren oder zu verspielen. Und er verwehrt sich gegen die Behauptung, dass es Konstruktionsfehler beim Euro oder beim Bau des Hauses Europa seien, die zu jetzigen Fehlentwicklungen und zur Katerstimmung geführt hätten.
Aufnahme Griechenlands in den Euroraum war ein Fehler
Aber wo macht Helmut Kohl dann die Fehlentwicklungen fest? Wird er da konkreter?
Durchaus, das Ganze entpuppt sich als große Abrechnung mit der rot-grünen Regierung ab 1998, der Einigungsprozess sei seitdem nur noch halbherzig betrieben worden. Größter Fehler aber sei die Aufnahme Griechenlands in den Euroraum gewesen, ein Land, das seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Und dann sei der Stabilitätspakt nach der Einführung des Euro gebrochen und schließlich aufgeweicht worden.
In den Augen Kohls ein Dammbruch, eine Aufforderung zum Schuldenmachen, ein "Schandstück deutscher Politik". Den Skeptikern des Euro hält er übrigens entgegen, dass Europa ohne ihn in den ökonomischen Verwerfungen und Währungsturbulenzen vielleicht sogar auseinandergebrochen wäre.
Was sind die Forderungen von Helmut Kohl?
Rückkehr zu einer Gemeinschaft der Stabilität und Rechtstreue, Einsicht und Verständnis, dass Europa unsere Zukunft ist, nämlich einer Zukunft ohne Krieg und einer Föderation der Menschenrechte, dass Europa eine einmalige historische Chance ist, die wir nicht verspielen dürfen. Und auf dem Wege dahin sei die Einbeziehung Russlands unabdingbar, beklemmend habe er das Bild des G7-Gipfels im Juni dieses Jahres empfunden, der so viele Jahre ein G-8 Gipfel mit russischer Beteiligung war.
Angehen gegen die Europa-Skepsis
Was ist Ihr Eindruck von diesem Appell des Altbundeskanzlers? Politische Abrechnung oder Vision für die Zukunft?
Beides ist nicht voneinander zu trennen. Einerseits geht es ihm um die Klarstellung der eigenen politischen Rolle in der Frage der deutschen Einheit und der europäischen Einheit, andererseits ist sein historischer Rückblick – was haben wir erreicht seit 1945? - durchaus angebracht. Waren die Probleme zur Zeit des Kalten Krieges nicht mindestens ebenso groß wie heute? Kohl erklärt das beherzte Angehen der Europa-Skepsis zur Existenzfrage. Sonst erhebe sich die Frage: Sind wir alle verrückt geworden, haben wir den Verstand verloren – und unsere Verantwortung gleich mit?