Kohlebagger und Supermarkt

Von Johannes Nichelmann |
Das Städtchen Gräfenhainichen in Sachsen-Anhalt erlebt an diesem Wochenende wieder eine Invasion junger Elektromusikfans. Die etwa 20.000 Besucher tanzen an drei Tagen in einer ungewöhnlichen Kulisse: zwischen riesigen Kohlebaggern in einer alten Tagebaulandschaft.
Aufstieg auf einen der großen Kohlebagger in Ferropolis bei Gräfenhainichen, Sachsen-Anhalt. Harald Harnisch – er hat einst diese riesigen Fahrzeuge gesteuert - führt mich über eine steile, rostige Wendeltreppe in das alte, staubige Führerhäusschen in fast zwanzig Metern Höhe. Freitag früh, zehn Uhr. Es ist Melt-Wochenende. Das große Musikfestival mit über 100 bekannten und unbekannten Künstlern hat begonnen. Durch dreckige Scheiben blicken wir auf die Arena mit der Hauptbühne.

"Herr Harnisch, Sie haben diesen riesen Bagger früher bewegt. Was ist das für ein Gefühl, hier zu stehen jetzt?"
"Ist natürlich schon ein erhabenes Gefühl. So, wie man von hier aus damals den besten Blick über den Tagebau hatte, hat man natürlich jetzt den besten Blick über diese ganze Arena. Über das Festival, gleichzeitig über den See. Und wenn das dann richtig losgeht, dann kommt hier richtig Leben rein. Dann kommt man sich vor, als wenn man hier oberhaupt eines Ameisenhaufens sitzt."
"Ein Ameisenhaufen mit 20.000 Besuchern, beim 13. Melt-Festival. Noch ist hier gar nicht so wahnsinnig viel los. Die Leute sind noch in ihren Zelten, hinten auf den Zeltplätzen oder in Gräfenhainichen und räumen da die Supermärkte leer."
"Das ist richtig! Wer als Einheimischer heute noch einkaufen will, der hat irgendwann schleche Karten!"

Autor: "Was kommt denn noch alles in den großen Einkaufskorb rein?"
Junge: "Mal gucken, was ist denn schon drin? Wasser, Wein, Orangensaft, Getränke, Kekse, Brötchen kommen jetzt noch. Was zum drauf tun."
Mädchen:"Nudeln!"
Junge: "Nudeln! Ja, was zum Mittagessen."




Christian aus Berlin und seine Freundin quälen sich durch den Discounter. Gemeinsam mit Melt-Gängern aus ganz Europa sorgen sie in diesem Supermarkt bis zum Montag vor. Fast vier Tage bleiben sie auf dem Gelände. Immerhin haben sie knapp 120 Euro Eintritt bezahlt. Das Programm: zelten, tanzen, schlafen. Der Supermarkt füllt sich mehr und mehr. Die Gräfenhainicher, meist ältere Leute, sind nach und nach in der Unterzahl. Die Kassiererinnen arbeiten in Arkordarbeit. Die Universität Chemnitz hat einmal ausgerechnet, dass allein in den Supermärkten, rund um das Festivalgelände, über eine halbe Million Euro von den Melt-Besuchern gelassen werden.

Junge Frau: "Na, es ist ja furchtbar voll! Das ist ja drinnen noch schlimmer als draußen!"
Ältere Frau: "Wir wollten bloß was zu trinken holen. Wir sind wieder umgekehrt, haben den Wagen weg gebracht. Jetzt fahren wir noch woanders hin. Mal gucken, ob wir da noch was kriegen."

Auf dem Parkplatz. Viele Autos mit Kennzeichen aus Berlin, NRW oder den Niederlanden. Immer bis auf den letzten Platz mit jungen Leuten – meist mit Sonnenbrille, Badehose und T-Shirt bekleidet – besetzt. Die Kofferäume bis oben hin mit vollen Flaschen und Lebensmitteln gefüllt. Wer kein Auto hat, so wie Charlotte und Ellena aus Hannover, muss auf das Bus-Shuttle warten. Und das dauert. Die beiden sitzen auf dem Bordstein vor der Bushaltestelle, ungeschützt in der prallen Sonne, ihre vier Einkaufstüten vor sich.

Charlotte: "Obst war fast leer. Obst ist heiß begehrt. Ja, dann hatten wir mal geguckt und alles in den Wagen geworfen. Die Schlange geht bis ganz nach hinten. Den ganzen Trakt runter. Bis ans Ende!"
Autor: "Wie lange habt Ihr gebraucht, um Eure großen Einkäufe zu ergattern?"
Charlotte: "Wir sind um neun losgegangen, vom Zeltplatz."
Ellena: "Und jetzt sind wir immer noch hier."
Charlotte: "Und jetzt ist es um zwölf."
Autor: "Wie lange seit Ihr hergelaufen?"
Ellena: "Schon so eine dreiviertel Stunde. Haben wir schon gebraucht."

Noch eine halbe Stunde müssen die beiden Schülerinnen warten, bis ein Shuttle-Bus sie endlich abholt. Der Weg zurück dauert jetzt nur wenige Minuten. Vorbei an der riesigen Zeltstadt. Zehntausende Zelte in allen Formen und Farben. Manchmal mit kleinen Fahnenmasten markiert – damit auch im heiteren Zustand alles gefunden werden kann. Festivals gehören für fast vier Millionen Besucher im Jahr zum festen Sommerprogramm. Charlotte und Ellena gehen jetzt erstmal ihre Einkäufe im Zelt verstauen, wollen erst am späten Nachmittag aufs Festivalgelände. Tanzen bis in die Nacht.



Marcel Dettmann, 36 Jahre alt, ist dafür zuständig, dass getanzt werden kann. Kurz vor drei Uhr nachts. Der DJ macht sich, gemeinsam mit einem Melt-Mitarbeiter, auf dem Weg zu seiner Bühne. Der Berliner ist ein Star in der Elektro-Szene, legt sonst im berühmten Club "Berghain” auf. Kurzer Besuch in Gräfenhainichen. Gerade erst ist er angekommen, konnte nur auf der Fahrt hierher kurz schlafen.

"Also heute wird’s eine ganz kurze Nummer werden. Bin jetzt gerade aus Portugal gekommen, von einem Festival. Und fliege dann morgen früh weiter nach Madrid zu einem Festival."

Dettmann: "Mach mal ein Foto, wenn ich mit Dave abschlage oder so, weißte? Dann können wir Dave mal featuren."
Mann: "Ja, machen wir so!"

Während für ein paar Minuten noch ein Kollege von Marcel Dettmann auflegt, sucht der sich ein paar Vinylplatten aus seinem Koffer heraus. Spontan mixt er gleich verschiedene Stücke zusammen. Bei ihm sind das meist minimalistische, harte Beats. Insgesamt drei Stunden wird er hier stehen.

Dettmann: "Also am Anfang suchst Du erstmal die Connection zu den Leuten. Das geht manchmal ganz schnell. Da kann eine Platte reichen. Und manchmal dauert es halt ein bisschen länger. Du bist mehr oder weniger Teil des Ganzen, aber irgendwie eben auch der Dirigent."

Kurz nach drei Uhr, Samstag früh. Marcel Dettmann übernimmt die Plattenspieler. Tausende Menschen stehen vor der Open-Air Bühne. Sie reißen ihre Arme nach oben, tanzen, gehen mit dem Beat - erleben eine Leichtigkeit in dieser warmen Festivalnacht auf dem Melt.

Weitere Informationen:

Im Schatten der Schaufelbagger - Das Musikfestival Melt in Sachsen-Anhalt

Radiofeuilleton, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) Erste Eindrücke vom Melt!-Festival 2013 (hörbar bis 20.02.2014)

Die drei Deutschlandradio-Reporter Grit Lieder, Johannes Nichelmann und Axel Rahmlow berichten das ganze Wochenende vom Melt!-Festival. Weitere Beiträge sind am Sonntag, 21. Juli, geplant: um 13.05 in "Die Reportage" (live) und um 23.05 Uhr im "Fazit"
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