Koleka Putuma: "Kollektive Amnesie"
Aus dem Englischen und mit einem Nachwort versehen von Paul-Henri Campbell
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2020
200 Seiten, 22 Euro
Eine Poetik der Dekolonisierung
05:50 Minuten
In Südafrika ist "Kollektive Amnesie" von Koleka Putuma ein Bestseller. Die Dichterin gilt als Stimme einer neuen Generation. Ihre Lyrik ist hochpolitisch und experimentell - mit verkappten Bühnenszenen, poetischen Listen oder leeren Seiten mit Fußnote.
In Südafrika ist die 27-jährige Dichterin, Schauspielerin und Videokünstlerin Koleka Putuma ein Star. Von ihrem 2017 erschienenen Gedichtband "Collective Amnesia" ist bereits die neunte Auflage im Handel. Putuma trifft mit ihren Gedichten einen Nerv, weil sie Dinge ausspricht, über die in Südafrika geschwiegen wird. Sie gehört einer Generation an, die die Apartheid nicht mehr selbst erlebt hat und doch umso deutlicher deren Folgen spürt.
Aufschrei gegen weiße Kolonisatoren
Das Gedicht "Wasser", das 2016 mit dem PEN South Africa Student Writing Prize ausgezeichnet wurde, beginnt mit einer Strandszene und der Scheu der Schwarzen vor dem Wasser. Übers Wasser kamen die Kolonisatoren und übers Wasser wurden die Sklaven entführt: "Ihre Tränen sind es, die das Wasser salzig gemacht haben." Das Gedicht ist ein trauernd-wütender Aufschrei gegen die Weißen: "Ihr habt euch die Freiheit genommen, das Konzept Gott zu kolonisieren, Gott ein Geschlecht zu geben, eine Hautfarbe."
Der gesamte Band lässt sich als Poetik der Dekolonisierung lesen. Du kennst die Liebe nicht, bis du geliebt wurdest wie Mandela", heißt es in der einen Zeile. Und in der nächsten: "Du kennst den Verrat nicht, bis du geliebt wurdest wie Mandela."
In dem Gedicht mit dem Titel "1994: Ein Liebesgedicht" geht es um die Liebe der Weißen zu Mandela. Einer der vielen Überreste der Sklaverei sei es, so heißt es in der letzten Zeile des Gedichts, "geliebt zu werden wie Mandela".
Gedichte auch über südafrikanische Gegenwart
Putuma hebt nicht nur die Vergangenheit aus dem kollektiven Vergessen, in ihren Gedichten geht es auch um die südafrikanische Gegenwart und ihre ungesühnte Gewalt gegen "Frauen*" (im Original: "womxn"), Homosexuelle und Kinder - im Privaten wie in der Öffentlichkeit. Der Onkel wird weiterhin am Familientisch geduldet, obwohl alle Bescheid wissen: "Es ist leichter, ein Kind für eine ‚Lüge‘ zur Rechenschaft zu ziehen als den Onkel für die Wahrheit."
In dem rhapsodischen Gedicht "über schwarze Solidarität" wiederum rechnet Putuma mit den Revolutionären der Unabhängigkeitsbewegung ab: Diese akzeptierten den Feminismus nur dann, wenn er das Patriarchat nicht störte. Und überhaupt: "Warum will eure Revolution immer in meiner Unterhose herumstöbern?"
Hochpolitisch und experimentell
Dass der Band zweisprachig erscheint, ist für die Gedichte ein Glück, wenn nicht die Rettung. Putumas Gedichte sind zugleich hochpolitisch und experimentell, doch die Übersetzung des Deutsch-Amerikaners Paul-Henri Campbell ist fehlerhaft und holprig, manchmal geradezu entstellend. So etwa, wenn er den Gedichttitel "Promise Land" mit "Gelobtes Land" übersetzt und damit nur das Klischee zitiert, auf das Putuma anspielt.
Der Band ist voller Überraschungen: Man begegnet verkappten Bühnenszenen, poetisch aufgeladenen Listen oder hintersinnig formulierten Lexikoneinträgen. Die kürzesten Gedichte bestehen nur aus dem Titel und einer Fußnote am unteren Seitenrand. Die leere Seite wirkt als Resonanzraum und lässt die Fußnote zum Titel "Apartheid" im Kopf der Leserin dröhnen: "Ein Genozid, den man noch immer in den Townships findet."
Die Gedichte Putumas sind nicht nur eine Anklage an die Kolonisatoren von einst und die südafrikanische Gesellschaft von heute, sie weisen weit darüber hinaus. Wir lesen in diesem Band die Stimme einer neuen Generation, deren politische Poesie den Westen ebenso angeht wie die afrikanischen Gesellschaften.