Kollektive im Kunstbetrieb

"Die Frage nach der Verantwortung im Team ist müßig"

07:31 Minuten
Die Künstlergruppe Tarin Padi schmeißt Großfiguren eines ihrer Kunstwerke auf der Documenta 15 auf einen Haufen.
Der Streit um die Künstlergruppe Taring Padi auf der Documenta 15 ist auch ein Streit um die Verantwortung. Die künstlerische Leitung der Ausstellung hat das Kollektiv Ruangrupa. © Imago/Hartenfelser
Thomas Macho im Gespräch mit Liane von Billerbeck  · 12.07.2022
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Ob bei der Documenta in Kassel oder beim nächsten Berliner Theatertreffen: Die Leitung teilen sich mehrere Personen. Doch wer übernimmt die Verantwortung bei Fehlern? Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho sieht hier kein Problem.
Die derzeitige Documenta zeigt es: Jede Menge Künstlerinnen und Künstler stellen dort aus, die künstlerische Leitung liegt beim Kollektiv Ruangrupa aus Indonesien. Diese Kollektiv-Entscheidung beschäftigt derzeit den Kulturbetrieb, die Politik und die Öffentlichkeit. Denn die Frage nach der Verantwortung dafür, dass zumindest ein Werk mit eindeutig antisemitischen Motiven ausgestellt werden konnte, ist noch immer ungeklärt.
Diese Diskussion entwerte aber nicht die Idee eines Führungsteams statt einer Einzelperson an der Spitze, sagt Thomas Macho. Er leitet das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien und hält die Debatte für unnötig. "Wir müssen einfach nur dran denken, in wie vielen Bereichen der Künste eben immer schon Teams am Werk waren – in der Musik, im Film, im Theater", sagt Macho.

Auch der Deutsche Pavillon bei der Architekturbiennale in Venedig 2023 wird kollektiv geplant. Zwei Gruppen wurden dafür von einer Kommission unter Vorsitz des Direktors des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main, Peter Cachola Schmal, ausgewählt: das Team des Berliner Magazins "Arch+" und die Architekturgemeinschaft Büro Juliane Greb. Die insgesamt acht beteiligten Personen werden im besten Falle sowohl schwarm-intelligent als auch arbeitsteilig zusammen arbeiten, sagt Franziska Goedicke von "Arch+" im Interview.

Aktuell seien Gruppenleitungen auch in den bildenden Künsten beliebt. "Da gibt es eben Gruppen, die verantwortlich sein wollen und müssen, weshalb die Frage nach der Verantwortung, die jetzt gegenwärtig an der Documenta diskutiert wird, ein bisschen müßig ist." Wenn ein Team auftritt, dann übernehme es auch als Team Verantwortung für das, was gezeigt wird.

Gegenmodell zum Geniekult des 19. Jahrhunderts

Sogenannte Kollektive – Macho spricht lieber von „Teams“ – seien aktuell beliebt, weil viel über „toxische Führungsstrukturen“ diskutiert werde, angestoßen durch Debatten um Rassismus und Sexismus. Das Kollektiv biete ein Gegenmodell zu der einen, womöglich noch männlichen Führungskraft. In der bildenden Kunst könnten durch diese Form der Führung neue Formen gewonnen werden. Ein Beispiel seien Rauminstallationen, die sich nicht mehr nur auf einzelne Werke konzentrieren.
Macho erinnert daran, dass Avantgarde-Bewegungen wie die Dadaisten und Surrealisten sich auch schon in Gruppen organisierten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seien Teamleitungen häufig gewesen, etwa bei Filmprojekten. „Ein weiterer Grund ist, dass sich Künstlerinnen und Künstler von dem Geniekult absetzen wollen, der Ende des 19. Jahrhunderts ja noch sehr populär war“, erklärt der Kulturwissenschaftler.

„Man hat Ruangrupa nicht verstanden“

Eine Innenperspektive zum Thema kollektives Arbeiten liefert der Autor und Ausstellungsmacher Heinz-Norbert Jocks. Er hat das Künstlerkollektiv „The Collective Eye“ gegründet und vor der Documenta zusammen mit Ruangrupa ein Buch herausgegeben - „Überlegungen zur kollektiven Praxis“. Im Gespräch beschreibt er die Geschichte seines eigenen Kollektivs, seine „Sehnsucht nach einer Gruppe“ und die Arbeit von Kollektiven, vor allem in Indonesien .
Jocks hätte es fruchtbarer gefunden, das Werk von Taring Padi nicht abzubauen, sondern im Angesicht dessen zu diskutieren. Für Taring Padi wäre es interessant gewesen, sich mit einem westlichen Publikum auseinanderzusetzen und zu verstehen, was daran antisemitisch sei. Und der Globale Norden hätte die Möglichkeit gehabt, die Sicht auf den Antisemitismus aus dem Globalen Süden gespiegelt zu bekommen: „Das wäre eine Erweiterung des Denkens für beide Seiten gewesen.“ 
Dass Ruangrupa dann sagte, sie wollten daraus lernen und einen Dialog führen, sei von den Medien so ausgelegt worden, dass sie sich nicht positionieren wollten: „Da hat man Ruangrupa nicht verstanden“, sagt Jocks. Er glaubt, dass allein schon die Entscheidung, die Leitung der Documenta einem Kollektiv zu überlassen, für viele Medien ein Problem gewesen sei. Auch die kollektive Arbeitsweise sei nicht richtig verstanden worden. Jetzt das kollektive Arbeiten ingesamt infrage zu stellen, sei „hanebüchen“, findet Jocks: „Wie soll ein einziger Kurator in der Lage sein zu überblicken, was in all den Ländern passiert? Das funktioniert nicht.“

Die Öffentlichkeit ist vielfältiger geworden

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich spricht von Schwarmintelligenz, um die Vorteile kollektiver Leitung zu beschreiben. "Ich finde den Begriff eigentlich ganz schön", sagt er im Interview. Viele Kunstevents hätten heutzutage den Anspruch, global zu sein. "Das überfordert eine Person."
Kuratieren sei anspruchsvoller geworden, weil die Öffentlichkeit und damit die Besucherschaft pluraler geworden ist, erklärt Ullrich: "Damit sind höhere Standards der Rücksichtnahme erforderlich, was eine einzelne Person kaum leisten kann."
Auch frühere Documenta-Ausgaben seien schon von Kollektiven geplant worden, wenn auch nicht offiziell. "Man hatte zwar das eine Gesicht für die Öffentlichkeit, aber dahinter haben ganz viele in der zweiten Reihe mitkuratiert", sagt Ullrich. Ob die Teams extra für eine Veranstaltung zusammengestellt werden oder Kollektive beauftragt werden, die sich schon lange kennen, sei nicht entscheidend. Klar sei, die Zeit, wo Einzelfiguren solche groß angelegten Events kuratieren, sei vorbei.

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