Kollektiv verdrängter Massenmord
Kulmhof, polnisch Chelmo, war das erste Vernichtungslager der Nazis. Das Lager in dem Dorf bei Lodz wurde im Winter 1941/42 errichtet. Mehr als 150.000 Menschen wurden hier ermordet. An diesen weitgehend vergessenen Ort erinnert eine Ausstellung im Berliner Centrum Judaicum.
Mit gut einem Dutzend Tafeln ist die Ausstellung im Berlin Centrum Judaicum eine relativ kleine. Viele Unterlagen über Kulmhof wurden noch während des Krieges vernichtet. Doch die Bedeutung des Lagers könne nicht überschätzt werden, betont Cameron Munro, einer der Initiatoren der Ausstellung:
"Kulmhof ist wahrscheinlich mindestens so wichtig wie Auschwitz-Birkenau. Natürlich wurden hier nicht so viele Menschen umgebracht, aber darum geht es nicht. Es geht um den organisierten Massenmord, und die Betonung liegt auf organisiert. Der Holocaust hat schon vor Dezember 1941 begonnen, es gab zum Beispiel die Einsatzkommandos in Russland, aber deren Einsatz war weniger organisiert. Kulmhof war das erste Vernichtungslager und deswegen ist es das wichtigste. Hier haben die Nazis die Technik der Massenvernichtung gelernt: Nicht erschießen, wie die Einsatzkommandos, sondern töten durch Gas."
Ganz richtig sei es nicht, was Munro sagt, ergänzt Wolfgang Benz. Der Historiker verweist darauf, dass das Ermorden durch Gas einen Vorläufer hatte:
"Das muss den Leuten auch immer wieder klargemacht werden: Die rassistische Ausrottungspolitik hat begonnen an den Angehörigen des eigenen Volkes in den Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich, weil sie blöde waren, weil sie das Down-Syndrom hatten, weil sie nicht in Anführungszeichen 'normal' gewesen sind, darin hat man es ausprobiert. Das hat man eingestellt, weil die Kirche protestiert hat."
In Kulmhof dagegen protestierte niemand, obwohl sich das Lager mitten in einem Dorf befand. Die SS hatte ein als "Schloss" bezeichnetes Herrenhaus in Beschlag genommen und für den Mordbetrieb vorbereitet. Die Menschen wurden in Lastwagen vom benachbarten Bahnhof angekarrt, mussten sich im Herrenhaus ausziehen und wurden dann über eine Rampe zu den Gaswagen gebracht. Nach ihrer Ermordung wurden die Leichen in einer benachbarten Waldlichtung verscharrt. Obwohl die Nationalsozialisten versuchten, das Morden geheim zu halten, konnten den Dorfbewohnern die SS-Angehörigen, die das Herrenhaus bewohnten, genau so wenig verborgen bleiben wie die ständigen Transporte, die von Polizisten begleitet wurden. Kulmhof ist ein Beispiel für kollektive Verdrängung.
Cameron Munro: "Ich glaube, es ist sehr einfach, wenn man seinem Alltag nachgeht und die Dinge um sich herum ignoriert, also Kulmhof ist das ultimative Beispiel dafür. Es war ein kleines Dorf mit 50, 60 Häusern, ein paar Bauern und einem Vernichtungslager mittendrin. Die Bauern sind mit ihren Anhängern voller Tomaten über die Hauptstraße gefahren, während da Lastwagen standen, auf denen Menschen darauf warteten, vergast zu werden. Das ist für mich die wichtigste Lehre: Ein Vernichtungslager kann sich in einem Dorf befinden, in dem Menschen leben und arbeiten."
Dass die Dorfbewohner das Treiben der SS sehr wohl mitbekamen, belegt der Bericht eines deutschstämmigen Lehrers, der sich um das Wohlergehen seiner ebenfalls deutschen Schüler Sorgen machte. Das Schulgebäude war rund 150 Meter vom Eingang zum Lager entfernt.
Cameron Munro: "Dieser Lehrer hat berichtet, dass die SS nachts oft Orgien veranstaltet hat, zu denen Krankenschwestern aus dem benachbarten Kolo gebracht wurden, wo sich das örtliche Krankenhaus befand. Am Morgen danach hat der Kommandant die betrunkenen Krankenschwestern rausgeschmissen, damit die SS wieder ihre Arbeit machen konnte. Sie lagen dann im Garten des Verwaltungsgebäudes und jeder, der durchs Dorf lief, konnte sie sehen. Auch die Schüler, deswegen hat sich der Lehrer bei den Behörden darüber beschwert."
Nachdem die SS die jüdische Bevölkerung im so genannten "Warthegau" ermordet hatte – mit Ausnahme der Arbeitsfähigen, die im Ghetto Lodz eingesperrt waren –, wurde das "Schloss" im April 1943 gesprengt. Als das Ghetto im Frühjahr '44 "liquidiert" wurde, wurde das Lager ein weiteres Mal in Betrieb genommen. Die jüdischen Opfer mussten sich in kurzfristig errichteten Baracken entkleiden, die Gaswagen wurden per Bahn angeliefert. Vor ihrer Flucht im Januar 1945 zerstörte die SS die Anlagen in Kulmhof endgültig. Heute erinnert ein kleines Museum am Ort des Geschehens an das Lager. Doch die Beschäftigung mit dem "unbekannten Vernichtungslager" sei wichtig, betont Wolfgang Benz, gerade weil es in der Öffentlichkeit so wenig bekannt ist:
"Wenn wir in Europa mit Polen zu einem freundlichen nachbarschaftlichen Verhältnis kommen wollen, dann muss man auch nach Kulmhof fahren, und nicht nur nach Auschwitz, dort einen halben lang Tag frösteln und sich gruseln, um abends dann in dieser wunderbar perfekten Inszenierung Krakau den Abend fröhlich zu verbringen."
Die Ausstellung "Kulmhof - Das unbekannte Vernichtungslager" ist bis zum 29. Februar 2012 im Centrum Judaicum in Berlin zu sehen.
"Kulmhof ist wahrscheinlich mindestens so wichtig wie Auschwitz-Birkenau. Natürlich wurden hier nicht so viele Menschen umgebracht, aber darum geht es nicht. Es geht um den organisierten Massenmord, und die Betonung liegt auf organisiert. Der Holocaust hat schon vor Dezember 1941 begonnen, es gab zum Beispiel die Einsatzkommandos in Russland, aber deren Einsatz war weniger organisiert. Kulmhof war das erste Vernichtungslager und deswegen ist es das wichtigste. Hier haben die Nazis die Technik der Massenvernichtung gelernt: Nicht erschießen, wie die Einsatzkommandos, sondern töten durch Gas."
Ganz richtig sei es nicht, was Munro sagt, ergänzt Wolfgang Benz. Der Historiker verweist darauf, dass das Ermorden durch Gas einen Vorläufer hatte:
"Das muss den Leuten auch immer wieder klargemacht werden: Die rassistische Ausrottungspolitik hat begonnen an den Angehörigen des eigenen Volkes in den Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich, weil sie blöde waren, weil sie das Down-Syndrom hatten, weil sie nicht in Anführungszeichen 'normal' gewesen sind, darin hat man es ausprobiert. Das hat man eingestellt, weil die Kirche protestiert hat."
In Kulmhof dagegen protestierte niemand, obwohl sich das Lager mitten in einem Dorf befand. Die SS hatte ein als "Schloss" bezeichnetes Herrenhaus in Beschlag genommen und für den Mordbetrieb vorbereitet. Die Menschen wurden in Lastwagen vom benachbarten Bahnhof angekarrt, mussten sich im Herrenhaus ausziehen und wurden dann über eine Rampe zu den Gaswagen gebracht. Nach ihrer Ermordung wurden die Leichen in einer benachbarten Waldlichtung verscharrt. Obwohl die Nationalsozialisten versuchten, das Morden geheim zu halten, konnten den Dorfbewohnern die SS-Angehörigen, die das Herrenhaus bewohnten, genau so wenig verborgen bleiben wie die ständigen Transporte, die von Polizisten begleitet wurden. Kulmhof ist ein Beispiel für kollektive Verdrängung.
Cameron Munro: "Ich glaube, es ist sehr einfach, wenn man seinem Alltag nachgeht und die Dinge um sich herum ignoriert, also Kulmhof ist das ultimative Beispiel dafür. Es war ein kleines Dorf mit 50, 60 Häusern, ein paar Bauern und einem Vernichtungslager mittendrin. Die Bauern sind mit ihren Anhängern voller Tomaten über die Hauptstraße gefahren, während da Lastwagen standen, auf denen Menschen darauf warteten, vergast zu werden. Das ist für mich die wichtigste Lehre: Ein Vernichtungslager kann sich in einem Dorf befinden, in dem Menschen leben und arbeiten."
Dass die Dorfbewohner das Treiben der SS sehr wohl mitbekamen, belegt der Bericht eines deutschstämmigen Lehrers, der sich um das Wohlergehen seiner ebenfalls deutschen Schüler Sorgen machte. Das Schulgebäude war rund 150 Meter vom Eingang zum Lager entfernt.
Cameron Munro: "Dieser Lehrer hat berichtet, dass die SS nachts oft Orgien veranstaltet hat, zu denen Krankenschwestern aus dem benachbarten Kolo gebracht wurden, wo sich das örtliche Krankenhaus befand. Am Morgen danach hat der Kommandant die betrunkenen Krankenschwestern rausgeschmissen, damit die SS wieder ihre Arbeit machen konnte. Sie lagen dann im Garten des Verwaltungsgebäudes und jeder, der durchs Dorf lief, konnte sie sehen. Auch die Schüler, deswegen hat sich der Lehrer bei den Behörden darüber beschwert."
Nachdem die SS die jüdische Bevölkerung im so genannten "Warthegau" ermordet hatte – mit Ausnahme der Arbeitsfähigen, die im Ghetto Lodz eingesperrt waren –, wurde das "Schloss" im April 1943 gesprengt. Als das Ghetto im Frühjahr '44 "liquidiert" wurde, wurde das Lager ein weiteres Mal in Betrieb genommen. Die jüdischen Opfer mussten sich in kurzfristig errichteten Baracken entkleiden, die Gaswagen wurden per Bahn angeliefert. Vor ihrer Flucht im Januar 1945 zerstörte die SS die Anlagen in Kulmhof endgültig. Heute erinnert ein kleines Museum am Ort des Geschehens an das Lager. Doch die Beschäftigung mit dem "unbekannten Vernichtungslager" sei wichtig, betont Wolfgang Benz, gerade weil es in der Öffentlichkeit so wenig bekannt ist:
"Wenn wir in Europa mit Polen zu einem freundlichen nachbarschaftlichen Verhältnis kommen wollen, dann muss man auch nach Kulmhof fahren, und nicht nur nach Auschwitz, dort einen halben lang Tag frösteln und sich gruseln, um abends dann in dieser wunderbar perfekten Inszenierung Krakau den Abend fröhlich zu verbringen."
Die Ausstellung "Kulmhof - Das unbekannte Vernichtungslager" ist bis zum 29. Februar 2012 im Centrum Judaicum in Berlin zu sehen.