Géraldine Schwarz, geboren 1974, ist eine deutsch-französische Autorin, Journalistin und Dokumentarfilmerin. Sie ist eine engagierte Europäerin, publiziert und interveniert in vielen Ländern zu Themen wie Erinnerungsarbeit, Demokratie und Populismus. Für ihr in zehn Sprachen übersetztes Buch "Die Gedächtnislosen" (Flammarion, Secession Verlag), erhielt sie 2018 den Europäischen Buchpreis.
Erinnerungskultur mit Reue reicht nicht aus!
04:35 Minuten
Die Verdrängung von Ausbeutung, Verbrechen und Gewalt schadet den ehemaligen Kolonialmächten bis heute, meint die Publizistin Géraldine Schwarz. Fehlende Aufarbeitung spalte die Gesellschaft und nütze den extremen Parteien, warnt sie.
Erinnerungsarbeit sollte weder eine Art Schuldkultur sein, noch einem Opferkult dienen. Sie darf keinen Revanchismus und Hass schüren, und nicht die Komplexität der Geschichte ausradieren. Doch sie ist sinnlos, wenn man nicht fähig ist, sich für das angetane Leid bei den Opfern, den Unterdrückten, zu entschuldigen.
Ohne Anerkennung der historischen Verantwortung, ist keine dauerhafte Versöhnung möglich. Doch wie viele scheuen sich davor!
Koloniales Erbe: Großbritannien verweigert Entschuldigung
Großbritannien, das einst über ein Fünftel der Welt herrschte, schafft es bis heute nicht, sich für die Ausbeutung von Ländern und Menschen, für Rassismus und Gewalt in ihren Kolonien, sowie für klar belegte Massaker zu entschuldigen.
Dem Massaker von Amritsar in Indien zum Beispiel, bei dem britische Soldaten 1919 Hunderte von Zivilisten töteten, die für mehr Freiheit demonstrierten. Oder in Kenia: Für die Unterdrückung der antikolonialen Mau-Mau Rebellen in den 1950ern, als die Briten fast die gesamte Gruppe der Kikuyu in Internierungslager und Reservate einsperrten. Zehntausende starben.
Erst in den Jahren um 2000 begannen Überlebende, Großbritannien zu verklagen. Die Regierung sprach ihre "Reue" aus, aber: ohne sich zu entschuldigen. Systematisch schiebt sie die Verantwortung den Verwaltungen der jeweiligen Kolonien zu - als ob die zuständigen Gouverneure unabhängig gehandelt hätten. In Wahrheit folgten sie streng den Anweisungen aus London.
Vergangenheit wird bis heute beschönigt
Die britische Kolonialgeschichte wird bis heute für patriotische Zwecke beschönigt. In Großbritannien erinnern weder die Schulen noch die Medien und die Museen an die Fehler und Abgründe der Vergangenheit. Doch wie viele Straßen und Statuen würdigen Persönlichkeiten des gefallenen Empires!
Ein Teil der Elite, die sich für einen Brexit stark gemacht hat, kommt aus Familien, die ihr Vermögen auf Grundlage des Kolonialismus gemacht haben. Sie wurden in Privatschulen ausgebildet, in denen bis heute die Tradition des Empires gewürdigt wird.
So blieb auch die Illusion, Großbritannien würde weltweit genug Einfluss haben, um im Alleingang handeln zu können.
In Frankreich wird Kolonialsystem angeprangert
Die Briten sind nicht die Einzigen. Die Fähigkeit eines Landes, sich zu entschuldigen, ist allgemein selten. Als Mexiko 2019 Spanien darum bat, sich für die Unterjochung indigener Völker durch die spanische Eroberung im 16. Jahrhundert zu entschuldigen, hieß es, dies könne nicht aus zeitgenössischer Sicht beurteilt werden.
Der spanische Staat drückt sich auch vor einer Wiedergutmachung gegenüber den Opfern des grausamen Franco-Regimes. Nach dem Tod des Diktators wurde 1977 ein Amnestiegesetz erlassen, das allen Tätern Straffreiheit zusicherte. Die Überlenden wurden mit ihrem Trauma allein gelassen.
Ein solches Maß an kollektiver Leugnung gibt es in Frankreich länger nicht mehr, weder im Bildungswesen, noch in den Museen und den Medien. Eine Mehrheit der politischen Führer prangert das Kolonialsystem an. 2017 nannte Emmanuel Macron es sogar "ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Insbesondere der algerische Unabhängigkeitskrieg, nach dessen Ende 800.000 Franzosen 1962 Algerien verlassen mussten – es war die älteste und beliebteste Kolonie der "grande nation". Diese Erinnerung sorgt auch für Ressentiments unter den Nachfahren der algerischen Migranten, die zum Teil in den explosiven "Banlieues" leben.
Kolonialmächte müssen sich historischer Verantwortung stellen
Die Schatten der Geschichte zu verdrängen und die Opfersicht zu ignorieren, hat einen hohen Preis: Sie spaltet eine Gesellschaft, nutzt den extremen Parteien und schadet den internationalen Beziehungen.
Die Verbreitung dieser Haltung in Europa und Amerika offenbart ein tiefes Missverständnis über die Rolle der Erinnerungsarbeit für die demokratische Reife eines Landes und den Frieden.
Wenn Europa weiterhin einen normativen Einfluss in der Welt ausüben will, wenn es seine Werte einer demokratischen und offenen Gesellschaft behaupten will gegenüber autoritären Modellen, müssen die ehemaligen Kolonialmächte lernen, sich ihrer historischen Verantwortung zu stellen.