Hans Dieter Heimendahl ist Programmchef von Deutschlandfunk Kultur.
Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur
Ja, Deutschland hat sich seiner nationalsozialistische Vergangenheit gestellt, meint Hans Dieter Heimendahl. Doch auch mit unseren kolonialen Altlasten muss ein angemessener Umgang gefunden werden - der sich nicht in der Rückgabe geraubter Kulturschätze erschöpfen darf.
Sich der Vergangenheit zu stellen, war nach dem Zweiten Weltkrieg für Deutschland der entscheidende Schritt in eine Zukunft im Kreise der Völker Europas. Erst die Bereitschaft, einigermaßen unvoreingenommen und offen auf die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus zurückzublicken, gerade auch auf den Versuch der Vernichtung der europäischen Juden, hat die Deutschen als Menschen mit Empathie und Verantwortungsbereitschaft erkennbar gemacht und Augenhöhe mit den einstigen Kriegsgegnern und den noch lebenden Juden ermöglicht. Ohne Vergangenheitsbewältigung hätte Deutschland nicht als Partner und Freund auf die europäische Landkarte zurückgefunden.
Die historisch-kritische und eben auch selbstkritische Leistung dieser Aufarbeitung kann man kaum hoch genug veranschlagen für die friedliche Koexistenz in Europa, aber auch für den Frieden nach innen und die Stärkung der Zivilgesellschaft. Nur durch eine Reflexion, die ideologische Fundamente in einem umfassenderen Sinne freigelegt hat und die mentale Mechanik der nationalistischen Selbstvergottung vor Augen führte, konnten sich in der deutschen Nachkriegsgesellschaft in den sechziger und siebziger Jahren echte Alternativen zu Befehl und Gehorsam, Überheblichkeit und Unterwerfung, Angst und Hass entwickeln und demokratische Diskursfähigkeit und Solidarität wachsen. Und nicht zuletzt Offenheit für die Völker Europas.
Vergangenheitsbewältigung ist Teil unserer Identität
Das ist lange her und längst nicht so stabil in unserer Gesellschaft verankert, dass man sich zurücklehnen könnte, aber es gehört zum festen Bestand unseres öffentlichen politischen Gesprächs und unserer Identität.
Aber wir müssen noch weiter gehen. Der Bericht zur Restitution afrikanischer Kunstwerke, den Felwine Sarr und Bénédicte Savoy vorgelegt haben, fordert uns neu heraus. Die aktuelle Frage, ob man die aus Afrika entwendete Kunst zurückgeben soll, ist dabei nur die Spitze des Eisbergs – und in meinen Augen übrigens leicht zu beantworten: ja, man soll und man muss. Aber mehr als das ist fällig, überfällig: wir brauchen eine Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit, wir brauchen eine neue Erinnerungskultur.
Dabei geht es nicht nur um das ehrliche Eingeständnis des unermesslichen Unrechts und der brutalen Gewalt, mit der im Namen Deutschlands Völker abgeschlachtet, Menschen unterworfen, erniedrigt und gequält wurden, aber das wäre schon mal ein Anfang.
Eine Aufgabe für ganz Europa
Es geht darum, sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen, den Chauvinismus des 19. Jahrhunderts und seine Wirksamkeit bis heute vor Augen zu führen, bis hinein in unser Verständnis von wirtschaftlicher Hegemonie, Entwicklung und Fortschritt. Das ist eine Aufgabe für ganz Europa. Denn wir sind noch immer die Herren der Welt und behaupten die Definitionsgewalt für die Ziele der Menschheit – das hat sich über Generationen tief in unser Selbstverständnis eingeschrieben.
Wie der Frieden in Europa für Deutschland erfordert hat, sich dem Unrecht des Nationalsozialismus und seinen Wurzeln zu stellen, so erfordert der Frieden in der globalisierten Welt, dass die Gesellschaften Europas sich ihrer kolonialen Vergangenheit, ihrer viele Jahrhunderte währenden Unterwerfung der Völker der Welt stellen. Das gilt nach außen wie nach innen.
Ich glaube, dass wir nur auf diesem Weg kooperations- und friedensfähig werden, nur auf diesem Weg lernen können, in der Welt auf Augenhöhe als Menschen unter Menschen zu leben.