Koloniale Erinnerungsarchitektur

Mit amoralischer Gleichgültigkeit

Eine Frau fotografiert mit einem Handy Schädel hinter Plexiglas.
Übergabe von Schädeln an die Opferorganisation "Rat für Dialog über den Genozid von 1904": Vor mehr als hundert Jahren ermordeten deutsche Soldaten Zehntausende Einwohner der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika. © picture alliance / dpa / Rainer Jensen
Gedanken von Matt Aufderhorst · 12.01.2023
In Deutschland rühmen wir uns gerne unserer Erinnerungskultur. Doch die Verbrechen der Kolonialzeit sind kaum angemessen aufgearbeitet worden, kritisiert der Journalist Matt Aufderhorst. Der Genozid an den Herero und Nama bleibt eine Randnotiz.
Ich ging und ging und ging, über die Gräber von Swakopmund, und ich dachte, während das unmarkierte Gräberfeld mit den Opfern des Genozids einfach nicht enden wollte, die Totenschlucht eine, noch eine Biegung machte, eine weitere Reihe von Hügelchen auftauchte, Massengräber, das Grün hinter mir zurückblieb, der Friedhof zur Wüste wurde, ich dachte an Celans Todesfuge, an die Zeile „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.
Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen: auf diese Wucht der Erkenntnis, der Gefühle. Trotz der Recherchereise durch Namibia. Trotz meines Besuchs des Waterbergs, von wo aus die Deutschen im August 1904 das Volk der Herero in die Wüste getrieben hatten, zum elendigen Verdursten. Elendig ist dabei wortwörtlich zu nehmen, ist der Kernbegriff der Landwegnahme. Im Mittelhochdeutschen heißt elendig nicht umsonst ohne Land.
Trotz der vielen Interviews mit den Nachfahren der Opfer war ich unvorbereitet auf das Elend der unwürdig Verscharrten, auf die Erkenntnis, dass die Angehörigen an diesen Ort kommen mussten, den Ort einer Erinnerungsohrfeige.

Keine Entschuldigung fürs Wegsehen

Es gibt keine Entschuldigung fürs Wegsehen. Auf dem Gräberfeld begriff ich: Wenn es um Kolonialverbrechen geht, haben wir uns um nichts, rein gar nichts als Gesellschaft, als Individuen wirklich gekümmert. Der Völkermord an den Herero und Nama? Eine Randnotiz. So wie hier hatte ich mich allerdings zuvor nur in Auschwitz-Birkenau gefühlt.
Der Friedhof von Swakopmund, Namibias wohl deutschester Stadt, gleicht an sich einer Oase. Wohlgepflegte Gräber von Deutsch-NamibierInnen, schattige Kriegsdenkmäler für die Soldaten des Deutschen Kaiserreichs und des British Empire. Ein verlogener Ort. Nein, das stimmt nicht: Wahrhaftiger kann kaum ein Ort sein. Die Lüge dieses Friedhofs ist sowohl die Wahrheit der weiterhin gelebten Apartheid, als auch die Wahrheit des Versagens unseres Erinnerns an die Verbrechen in der einzigen deutschen Siedlerkolonie, begangen zwischen 1884 und 1915.

Verbrechen wirken bis heute nach

Übrigens: Auch das ist nicht die ganze Wahrheit, selbst wenn es so in den Büchern übers Ende „Deutsch-Südwestafrikas“ steht. Zwar hatten sich die Deutschen den Briten – genauer den Südafrikanern – im Ersten Weltkrieg schnell ergeben. Allerdings haben sie sich mit den Buren, den weißen SüdafrikanerInnen, prächtig verstanden. Zusammen haben sie die Landenteignung auch nach 1915 fortgeführt, sich fast jeden Hektar fruchtbaren Bodens unter den Nagel gerissen.
Eine aktuelle Bestandsaufnahme von Forensic Architecture hat gezeigt, dass heute 44 Prozent der Fläche Namibias – 70 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche – im Besitz von 4500 weißen Nachkommen europäischer KolonistInnen sind, die 0,3 Prozent der Bevölkerung ausmachen, während die Nachfahren der Opfer elendig leben. Die Kluft zwischen Reich und Arm ist enorm. In der Liste der Länder nach Einkommensverteilung liegt Namibia an drittletzter Stelle.
Zwar zahlt Berlin Entwicklungsgeld an die Regierung in Windhoek. Davon kommt aber kaum etwas bei den Nachfahren der Opfer an. Dazu gehören nicht nur Herero und Nama, sondern auch das Volk der San, das wegen der Vertreibung der Herero selbst vertrieben worden ist, weitgehend in einem Reservat an der Grenze zu Botswana lebt. Bei vielen gibt es Erinnerungen an deutsche Verbrechen. Immer noch werden Kinder mit hellen Haaren geboren. Die Gene der Vergewaltiger tauchen auf.

Gedenk- und Forschungsstätten sind notwendig

Obwohl die Folgen der Kolonialverbrechen überaus präsent sind: Für die Aufarbeitung der Kolonialzeit wird bislang weder in Namibia noch in Deutschland Geld in Erinnerungsarchitektur investiert. Dabei wären Gedenk-, Forschungs- und Begegnungsstätten dringend notwendig, um eine emotionale Verbindung zu und ein Verständnis für die vergangenen Verbrechen zu schaffen. Ohne eine tiefempfundene Beziehung zur Geschichte wird der juristische Weg zur Anerkennung des Genozids, zu Entschädigungen, versperrt bleiben.

Matt Aufderhorst ist 1965 in Hamburg geboren. Er ist Radio- und Fernsehjournalist und Mitbegründer von „Authors for Peace“. Er studierte Kunstgeschichte und Deutsche Literatur. Seine Essays über Architektur und Erinnerung sind unter anderem in „Lettre International“ und „WOZ“ erschienen.

Porträtaufnahme des Journalisten Matt Aufderhorst
© Ali Ghandtschi
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