Raus Rein. Texte und Comics zur Geschichte der ehemaligen Kolonialschule Witzenhausen
Avant-Verlag, Berlin 2016
178 Seiten, 24,95 Euro
Als die Deutschen ein Weltreich wollten
Die 1898 gegründete Kolonialschule Witzenhausen war die einzige ihrer Art in Deutschland: Sie sollte junge Leute auf das Leben in den Kolonien vorzubereiten. Kasseler Kunststudenten erzählen die Geschichte dieser Schule in Comics und Texten.
Die Zeichensäle der Comic-Studenten von Kassel liegen malerisch, mit Blick auf die grüne Karlsaue, mitten in der Stadt. Hier entstand die Idee, ein Kapitel deutscher Geschichte mit den Mitteln der Graphic Novel zu erforschen, das bisher wie verschüttet zu sein schien von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts: Die deutsche Kolonialzeit.
"Das haben wir alles falsch eingeschätzt."
So beginnt auch der Comic-Band "Raus Rein" − mit Hendrik Dorgathens Eingeständnis eines Scheiterns am Material. Dabei wollte es der Professor für Comic und Illustration an der Kunsthochschule Kassel schlicht halten und das Thema an einen Gegenstand binden, der räumlich wie zeitlich leicht festzumachen ist: 1898 wurde im ebenso malerischen Witzenhausen an der Werra, unweit von Kassel, die Deutsche Kolonialschule gegründet.
Viele Fundstücke und alle Schattierungen
Sie bestand bis 1944, in den 50er-Jahren wurde das Deutsche Institut für Tropische und Subtropische Landwirtschaft in den selben Räumen wiedergegründet, das gibt es bis heute. Bemerkenswert war nicht nur die Fülle der Fundstücke, die dort lagern, sondern auch ein ganz bestimmter Erkenntnisprozess, der den Professor und seine Schüler ergriff:
"Die Wirklichkeit ist grau. Die ist nicht schwarz oder weiß. Und grau in allen Schattierungen, die man sich denken kann."
Weshalb der Comic als Medium besonders gut dafür geeignet ist, diese Geschichte aufzuarbeiten.
"Man muss diese Inhalte nicht vorher mit einem Produzenten verhandeln. Und man kann eben mit Comics Dinge darstellen, die in keinem anderen Medium so funktionieren."
Also schickte Hendrik Dorgathen seine Studenten mitten hinein in die Archive, die in Witzenhausen hinter den Mauern eines mittelalterlichen Klosters lagern und deren Inhalt teilweise ausgestellt wird.
"Ich hab Glück gehabt, weil ich einen Brief von einem Schüler gefunden habe, wo er schildert, wie er von anderen Schülern drangsaliert wurde."
Anne Zimmermann bebildert diesen Brief eines Kolonialschülers genauso wie den des Vaters, der um Milde für seinen Sohn bittet: In Schwarz und Weiß, einem Holzschnitt gleich.
"Die Unerschrockenheit des jungen Mannes und sein nationalistisches Draufgängertum dürften ihn für die Kolonien besonders prädestinieren."
"Ich brauchte eigentlich gar nicht viel Fiktion, außer mir vorzustellen, wie es da war. Ich hab mich wirklich nur an diesen Briefen entlang gehangelt."
Wo endet Überzeichnung, wo beginnt Rassismus?
Manche der Comic-Studenten stießen an Grenzen ihrer Kunst. Florian Biermeier hat die mutmaßliche Lebensgeschichte von Selemani bin Juma aufgezeichnet, dem schwarzen Hausdiener der Kolonialschule, er starb 1940. Hier zeigt sich der schmale Grat, auf dem sich viele der Studenten bewegen. Wo endet eine Comic-typische Überzeichnung − wo beginnt ein rassistisches Klischee?
"Deswegen hab ich mir überlegt, ich versuche ihn so darzustellen, wie er war. Und wenn das bedeutet, dass ich da große Lippen zeichnen muss, dann werde ich das tun, weil ich keinen Ausweg gesehen habe, ehrlich gesagt."
Der Band thematisiert genau diese Ratlosigkeit – und das ist seine Stärke.
"Der Comic tut nicht so, als wäre es echt. Es ist offensichtlich eine persönliche Haltung zum Thema."
Bei Comic-Professor Hendrik Dorgathen klingt das – wissenschaftlicher – so:
"Das Medium konstruiert zwar eine Geschichtswirklichkeit, die aber gleichzeitig dekonstruiert wird."
Dorgathen selbst hat auch gezeichnet:
"Schädel haben für mich schon als Kind eine große Faszination gehabt."
Schrumpfköpfe für die Kolonialisten
Der Schädel des Gründers der Kolonialschule Fabarius liegt hier begraben, der einer Frau aus dem heutigen Namibia und ein Schrumpfkopf aus Papua-Neuguinea, von Kolonialschülern gekauft und mitgebracht.
"Vielleicht haben wir hier ein erstes Beispiel von dem, was wir heute als Airport Art bezeichnen, nämlich dass die Leute, die am Fluss wohnten, spitzgekriegt haben, dass die kultischen Schädel einen Wert für die Kolonialisten hatten. Und möglicherweise hat man dafür produziert."
Dorgathens Verdacht: Es könnte gemordet worden sein, um die Nachfrage der Kolonisatoren nach Schrumpfköpfen zu befriedigen. Im Comic platziert er die drei Schädel gleichberechtigt nebeneinander im Innenhof der ehemaligen Kolonialschule, wo heute nur Fabarius' Büste steht.
"Mein Name ist Julian Rösner, ich hab einen Text zu diesem Band beigetragen – in dem Text geht’s um einen ehemaligen Kolonialschüler, der an der Schule ausgebildet wurde, um dann nach Deutsch-Südwest zu fahren und seine eigene Farm dort zu gründen."
Einen aktuellen Zugang zum Comic findet dagegen der Landwirtschaftsstudent David Weiss. Er hat eine Gebrauchsanleitung gezeichnet, die zeigt, wie Bauern in Madagaskar einen bestimmten Baum nutzen können, der ihre Rinder in der Trockenzeit ernährt. Weiss studiert in Witzenhausen – gerade durch den Umgang mit der Vergangenheit hat sich in den Räumen der Kolonialschule ein besonderes Bewusstsein entwickelt, unter Studierenden und Lehrenden, sagt er.
"Alle sind da eigentlich engagiert, was fairen Handel angeht. Das ist Konsens. Da trinkt keiner konventionellen Kaffee. Ich finde, das ist das Auenland. Mordor ist woanders."