Deutsche Kolonialverbrechen in Namibia
Genozid-Museum in Swakopmund: Laidlaw Peringanda ist ein Nachfahre der Opfer deutscher Kolonialverbrechen. © Leonie March
Herero fordern Entschädigung
24:14 Minuten
Zwischen 1904 und 1908 verübten deutsche Kolonialtruppen einen Völkermord an den Herero und den Nama. Über 100 Jahre später verhandeln Deutschland und Namibia ein Versöhnungsabkommen. Doch die Opfergruppen sitzen nicht mit am Tisch und wehren sich.
In einer Siedlung am Stadtrand der namibischen Küstenstadt Swakopmund säumen einfache Häuser die sandigen Straßen. Vor einem der Häuser in der Wüstenlandschaft wachsen Pflanzen in Kübeln aus Autoreifen. An der Fassade des Außenraums steht in roten, gemalten Buchstaben: Swakopmund Genocide Museum.
Zum Verdursten in die Wüste gejagt
Drinnen sitzt Laidlaw Peringanda an seinem Schreibtisch, umgeben von historischen Fotos aus dem frühen 20. Jahrhundert, der Zeit des Völkermords an den Herero und Nama. Die beiden indigenen Volksgruppen hatten sich gegen die Fremdherrschaft der deutschen Kolonialmacht aufgelehnt. Was folgte, war ein erbarmungsloser Vernichtungsfeldzug der sogenannten Schutztruppe unter Generalleutnant von Trotha.
Zehntausende wurden getötet, Überlebende wurden zum Verdursten in die Wüste gejagt oder in Konzentrationslager eingepfercht. Auch hier in Swakopmund, sagt Peringanda.
„Als ich neun Jahre alt war, hat mir meine Urgroßmutter erzählt, was sie dort durchgemacht haben. Wie sie von deutschen Kolonialsoldaten vergewaltigt und sogar gezwungen wurden, die Schädel einiger ihrer Familienangehörigen abzukochen. Wie sie als Zwangsarbeiter die Bahnstrecke und einige der Kolonialgebäude hier in der Stadt gebaut haben.“
Schwarz-Weiß-Fotos lassen Horror erahnen
Die Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand lassen den Horror erahnen: Ausgemergelte Körper, Kinder in Ketten, die an Metall-Halsbändern befestigt sind, zur Schau gestellte, abgetrennte Köpfe. Viele der Originalschädel der Opfer befinden sich bis heute in ethnologischen Museen im Ausland, die Toten wurden in Massengräbern verscharrt.
In Swakopmund selbst erinnert vieles an die Kolonialgeschichte, allerdings nicht so, wie es sich Peringanda und andere Nachfahren der Opfer wünschen.
Kaiser und Bismarck sind beliebte Namen für Restaurants und Hotels. Auf einem zentralen Platz steht das Marinedenkmal. Es erinnert an die siegreiche deutsche Schutztruppe. Auf einem Felsen steht die Figur eines Soldaten, sein Gewehr im Anschlag.
Auf einer Bronzeplakette sind die Namen der Gefallenen verzeichnet, auf einer anderen die Einsatzorte. Peringanda zeigt mit dem Finger darauf.
„Das hier ist der Name des Dorfs meines Urgroßvaters, wo die Menschen massakriert wurden, mit Datum. Jedes Jahr gab es hier eine Gedenkveranstaltung von deutschstämmigen Namibiern, bis wir sie gestoppt haben. Wir wollten sie hier nicht sehen. Wir wollten dieses Trauma nicht immer wieder erleben. Wir haben rote Farbe auf das Denkmal gespritzt, die das Blut unserer Vorfahren symbolisiert. Der Soldat dort oben richtet sein Gewehr in die Richtung des Konzentrationslagers. Wir wollen auch dieses Denkmal hier nicht mehr sehen. Es gehört in ein Museum, wo es sich die Leute ansehen können.“
Noch aber steht es fest auf seinem Fundament.
Nicht einmal die Gräber wurden respektiert
Ein anderer Teil der Geschichte wurde dagegen komplett ausgelöscht: Am Ort des Konzentrationslagers steht heute ein Casino. Nur ein Teil der Gräber existiert noch.
Wenig später betritt Peringanda den Friedhof von Swakopmund. Eingerahmt von einer Mauer, die Dünen der Wüste auf der einen, Wohnhäuser auf der anderen Seite. Der 48-Jährige geht an gepflegten Gräbern mit Grabsteinen und Blumen vorbei, auf eine weite Sandfläche mit unzähligen kleinen Hügeln zu. Das sind die Gräber unserer Vorfahren, sagt er.
„Als ich zum ersten Mal hier war, bin ich zusammengebrochen. Ich erinnerte mich an meine Urgroßmutter und was sie mir erzählt hat. Viele dieser Menschen wurden aus dem Inland hierher gebracht. Sie mussten sieben Tage die Woche schuften, etliche von ihnen starben an Erschöpfung und Unterernährung", sagt er.
"Ihre Gebeine liegen nah unter der Oberfläche in diesen namenlosen Gräbern. Viermal im Jahr häufen wir diese wieder auf. Das ist jedes Mal traumatisch, weil teils Schädel und Skelette aus dem Sand ragen. Vor ein paar Jahren gab es nicht einmal diese Mauer, Leute sind mit allradbetriebenen Fahrzeugen über die Gräber gefahren. Einige wurden dadurch zerstört. Auch teure Häuser wurden auf dem Ruheplatz unterer Vorfahren gebaut.“
Die Aufarbeitung des Völkermords hat erst spät begonnen. Auf die deutsche Kolonialzeit folgte die Apartheid unter südafrikanischer Verwaltung und schließlich der Unabhängigkeitskampf. 1990 wurde Namibia ein selbstständiger Staat, erzählt Peringanda.
„Infolge des Völkermords sind Nama und Herero heute eine ethnische Minderheit. Die Ovambo kontrollieren unser Land. Sie betonen den Unabhängigkeitskampf der heutigen Regierungspartei SWAPO und klammern unsere Geschichte von 1904 bis 1908 aus. Es gibt keinen nationalen Gedenktag, der an den Genozid erinnert. Und von den Verhandlungen mit Deutschland über Entschädigungen haben sie uns bewusst ausgeschlossen", kritisiert er.
"Regierungsmitglieder werfen mir vor, dass ich zu viel aufdecke, was einigen der deutschen Vertreter nicht gefalle. Ich weiß, dass Deutschland der größte Entwicklungshilfe-Geber für unser Land ist. Aber wenn ich nicht für meine Vorfahren spreche, wer tut es dann? Ich fühle mich dazu verpflichtet.“
Ein gescheiterter Versöhnungsprozess
Das Versöhnungsabkommen, das Namibia und Deutschland jahrelang ausgehandelt haben, ist immer noch nicht ratifiziert. Seit Mai 2021 liegt es vor, aber die Kritik daran ist laut. Der Hauptgrund: Die Opfergruppen des Genozids wurden kaum oder gar nicht gehört, Chefunterhändler beider Regierungen haben miteinander diskutiert.
Auch die Entschuldigung von Bundespräsident Steinmeier steht noch aus. Die Opferverbände fordern, dass er sich direkt bei ihnen und nicht, wie geplant, vor dem Parlament entschuldigen soll. Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin, unterstützt die Forderungen der Opfergruppen.
"Zunächst muss man sagen, dass es der alleinige Verdienst der Betroffenen ist, dass über 118 Jahre später überhaupt noch über dieses Thema geredet wird. Umso schmerzhafter ist es, dass genau die Vertreter, die diesen Prozess vorangetrieben haben, in dem einzigartigen Prozess der Verhandlungen zwischen den beiden Regierungen praktisch nicht konsultiert und nicht beteiligt worden sind. Damit ist der ganze Prozess, der modellhaft hätte sein können, leider momentan gescheitert."
Deutschland verpflichtet sich in dem vorliegenden Abkommen dazu, "die notwendigen Mittel für Versöhnung und Wiederaufbau bereitzustellen“. Zahlungen von 1,1 Milliarden Euro über 30 Jahre sind vorgesehen. Sie sollen in erster Linie der Entwicklung von besonders betroffenen, konkret benannten Gemeinden zu Gute kommen.
Auch das sorgt für Kritik: Denn durch Flucht und Vertreibung leben Nachfahren der Opfer heute auch in der Diaspora oder anderen Teilen des Landes und in den betroffenen Gebieten wohnen heute auch unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, auch solche, die gar nicht zu den Opfern gehören.
Die Frage, wer darüber entscheiden soll, welche Projekt in einer Gemeinde umgesetzt werden, bleibt offen. Das Mitspracherecht der Betroffenen ist nirgendwo verankert und die namibische Regierung, die das Abkommen verhandelt hat, genießt nicht das Vertrauen der Opfergruppen.
"Unser Land wurde gestohlen"
Für den Gründer des kleinen Genozid-Museums in Swakopmund, Laidlaw Peringanda, geht es um viel mehr als Geld.
“Wir wollen, dass unsere Würde wiederhergestellt wird. Wir haben unser Vieh und unseren Reichtum verloren. Nach dem Völkermord ging der Besitz der Nama und Herero an deutsche Siedler und Kolonialsoldaten. Sie profitierten vom Wohlstand unserer Vorfahren. Darum geht es, wenn wir von einer Wiederherstellung der Würde reden. Viele von uns leben heute in Armut, in informellen Siedlungen – auch eine Art Konzentrationslager."
Am Rand von Swakopmund wachsen solche informellen Siedlungen. Winzige Häuser aus Wellblech, Holzplanken und Plastikplanen drängen sich aneinander. Es gibt weder Strom noch Wasser und Sanitäranlagen. Hier leben die Nachfahren der Opfer des Genozids und warten seit Jahrzehnten auf eine Sozialwohnung. Ihre Vorfahren hatten Ländereien und lebten von der Viehzucht, aber ihr Land wurde gestohlen.
In einem der kleinen Häuschen beugt sich Claudia Kavita über ihr Nähzeug. An der Wand hängen handgefertigte Kleider, auf dem Boden liegen Kissen, Taschen und Puppen in Herero-Tracht. Kavita selbst trägt sie auch: Ein ausladendes orangefarbenes Kleid mit Schürze und die typische Kopfbedeckung, die Rinderhörner und damit den Stolz der traditionellen Viehzüchter symbolisiert. Vor neun Jahren ist Kavita hierhergezogen. Sie verkauft ihre Näharbeiten auf der Strandpromenade von Swakopmund und trifft dabei oft auf deutsche Touristen.
„Einige von ihnen sagen, dass sie uns gegenüber Schuld empfinden und bitten sogar um Vergebung für das Leid, das ihre Vorväter verursacht haben. Das ist gut, aber es verbessert meine Lebensbedingungen nicht. Durch den Genozid, bei dem auch mein Urgroßvater getötet wurde, haben wir unsere Viehherden und unser Land verloren. Ich lebe von der Hand in den Mund und spare, was ich kann, für die Bildung meiner beiden Söhne. Ich hatte diese Chance nicht und ich glaube fest daran, dass Bildung das Fundament für ein besseres Leben ist.“
Kein deutsches Geld für korrupte Eliten
Entsprechend wünscht sie sich vor allem eines: dass die Gelder aus Deutschland in Schulen, Ausbildungsprogramme und Universitäten fließen, in Stipendien für die Nachfahren der Opfer. Pauschale Zahlungen an Namibia sieht sie kritisch.
“Geld ist irgendwann ausgegeben, daher sind konkrete Leistungen besser. Zum Beispiel ein Geschäft für unsere Handarbeiten. Mein größter Traum wäre ein eigenes Stück Land, auf dem ich Kühe und Ziegen halten und etwas Landwirtschaft betreiben kann. Aber wir wissen aus Erfahrung, dass das Geld, das Deutschland an unsere Regierung zahlt, nicht bei uns ankommt. Es gibt einfach zu viel Korruption und Ungerechtigkeit. Es bräuchte eine unabhängige Institution, die die Zahlungen überwacht. Ansonsten gehen wir Nachfahren der Opfer wieder leer aus, während sich andere bereichern.“
Das Misstrauen gegenüber der eigenen Regierung kommt nicht von ungefähr. Im Jahr 2004 sollten im Rahmen einer Sonderinitiative der Bundesregierung 20 Millionen Euro in die Siedlungsgebiete der Herero und Nama fließen. Kaum etwas davon ist angekommen.
Korruptionsskandale und die ungelöste Landfrage spalten Namibia. Über die Hälfte des Farmlandes gehört bis heute der weißen Bevölkerungsminderheit.
Laidlaw Peringanda, der Initiator des kleinen Museums in Swakopmund, weist darauf hin, dass die Landfrage der eigentliche Auslöser des kolonialen Vernichtungsfeldzugs gewesen ist.
„Wir wollen das Land unserer Vorfahren zurück. Denn ohne Land sind wir nichts. Noch immer besitzt eine Minderheit den Großteil der landwirtschaftlichen Flächen: neben deutschstämmigen Namibiern mittlerweile auch prominente Mitglieder der Regierungspartei. Sie besitzen nun Farmen, die eigentlich für die landlose Bevölkerung gedacht waren. Ich weiß also nicht, wer darüber wachen wird, dass das Land gerecht verteilt wird.“
"Wir sollten Teil der Lösung sein"
Wolfgang Kaleck weist darauf hin, dass sich Deutschland der Tatsache stellen muss, dass die Konsequenzen des Landraubs bis heute anhalten. Deshalb sollte Deutschland auch die Mittel bereitstellen, um die Landfrage sinnvoll zu lösen.
"Das Land von heute ist nicht mehr das Land von damals. Was damals den Herero die Möglichkeit geboten hat, sich vom Land zu ernähren, ist heute nicht mehr so einfach möglich. Da muss man sehr viel kreativer damit umgehen. Aber der erste Schritt dazu ist erst mal, dass man anerkennt, dass eben nicht nur massenhaft Menschen umgebracht wurden – so viele, dass man von einem Völkermord an den Herero und Nama sprechen muss –, sondern dass eben auch sexualisierte Gewalt und Landraub begangen wurden", sagt er.
"Auch das schmerzt, wenn ein Prozess begonnen wird, indem so wichtige Dinge fast vollkommen ausgeklammert sind. Die politische Lösung, wie das Land verteilt wird, die muss natürlich die namibische Bevölkerung finden. Aber die Deutschen sollten Teil der Lösung sein und sollten die Ressourcen dafür bereitstellen, dass diese Themen überhaupt bearbeitet werden. Stattdessen wird auch dieses Thema komplett ignoriert."
Laidlaw Peringanda warnt vor einer Eskalation. Er selbst wünscht sich eine friedliche Lösung und einen Dialog unter den Nachfahren beider Staaten. Immer wieder bekommt er in seinem kleinen Museum Besuch von Studenten, Touristen und Wissenschaftlern aus Deutschland. Einige hätten sogar bei der Pflege der Gräber geholfen, erzählt er.
„Ich habe viele Freunde in Deutschland. Ich kann keinen Groll gegen die heutige Generation hegen. Es war ja nicht sie, die meine Vorfahren vernichten wollte, sondern von Trotha und die Kolonialtruppen. Ich versuche, auch junge deutschstämmige Namibier einzubeziehen. Sie wurden hier geboren, sie sind ein Teil Namibias. Ich wünsche mir, dass Schwarze und Deutsche in hundert Jahren hier in Koexistenz leben können. Ich möchte die Wunden der Vergangenheit heilen.“
Quellen: Leonie March (Feature-Autorin), Wolfgang Kaleck (Interviewpartner), Ellen Häring (Weltzeit-Redakteurin)