Kolonisierung der Welt durch KI

Kolumbus kommt heute per Internet

Die Statue des Kolumbus-Denkmals ragt zwischen modernen Bauten in Mexiko-Stadt hervor.
Westlicher Kolonialismus kommt heute nicht mehr per Schiff und Eroberern, sondern über programmierte Software, meint Roberto Simanowski. © picture alliance / imageBROKER / Crossland, D.
Ein Kommentar von Roberto Simanowski · 09.12.2022
Die Europäer erobern die Welt heute nicht mehr mit Gewalt. Am Ende ist der Kolonialismus aber nicht. Jetzt kommt er per künstlicher Intelligenz. Versteckt in der KI würden westliche Ideen exportiert, meint Medienwissenschaftler Roberto Simanowski.
Kolumbus kam mit dem Schiff. Es war der Anfang der großen Kolonisierung der Welt durch den Westen. Seitdem spricht Lateinamerika Spanisch, außer Brasilien, da landete Cabral und der kam aus Portugal. Das ist lange her. Die Eroberung hat sich andere Formen gesucht, in Gestalt des Internationalen Währungsfonds und global operierender Unternehmen oder durch den Export von Ideen und Technologien.
Die Ideen kommen per Schiff oder zu Fuß, per Buch oder Rundfunk und sind im Internetzeitalter nur noch einen Klick entfernt. Die Technologien sind Mittel zur Verbreitung der Ideen, aber auch selbst eine Idee, denn sie verändern die Praxis des menschlichen Handelns. So erlaubt das Auto den spontanen Ausflug, die Mikrowelle das hastige Essen und Kommunikationstechnologien wie Google und Facebook ändern weltweit den Umgang mit Wissen und Freunden.

Am Vorabend einer neuen Kolonisierungswelle

Das alles ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass wir uns am Vorabend einer neuen Kolonisierungswelle befinden: der Kolonisierung durch KI. Denn während das Auto nur den Individualverkehr exportiert, exportiert das von der KI gefahrene Auto zugleich den Fahrstil.
Wechseln wir von der KI, die das Auto steuert, zur KI, die kommuniziert: Chatbots auf Servicewebsites, Sprachassistenten wie Siri und Alexa, Textgeneratoren wie GPT-3 und PaLM.
Wo haben diese KI-Modelle das Denken gelernt? Beziehungsweise das Rechnen, denn eine KI denkt ja nicht, wenn sie spricht, sondern bildet sinnvolle Sätze allein auf der Basis eines statistischen Kalküls. Was die Menschen in den Gigabytes an Text, mit denen die KI gefüttert wird, am meisten über Gott und die Welt denken, das trägt die KI in jeden Winkel der Welt, in dem sie zum Einsatz kommt.
Stammen die Texte hauptsächlich von rechtsradikalen Netzwerken, wird die KI rassistisch argumentieren, stammen sie von liberalen Autor:innen, wird sie die Freiheit des Individuums loben und möglicherweise gendern.

 Der Westen drängt der Welt seine Werte auf

Kolumbus kam mit dem Schiff und brachte den Glauben an Christus. Heute drängt der Westen der Welt seine Werte und Vorurteile auf, ohne je einen Fuß ins eroberte Gebiet setzen zu müssen. Denn es sind junge weiße Männer aus den USA, die den größten sprachlichen Fußabdruck im Internet hinterlassen und so die Trainingsdaten der KI bestimmen.
Kein Wunder also, dass Kritiker:innen eine dekolonisierte KI fordern, die die Vielfalt der Kulturen reflektiert. Dazu gehört auch, denjenigen Gehör zu verschaffen, die im gesellschaftlichen Diskurs bisher marginalisiert waren: Frauen, Migrant:innen, Homo- und Transsexuelle. Die Perspektive dieser Gruppen soll in den Trainingstexten der KI gestärkt werden, durch eine Art Quotenregelung für Minderheitsdaten. 
Die Forderung ist nachvollziehbar und birgt zugleich eine Menge an Fragen. Wer entscheidet über welche Quote? Kuratieren die Ingenieur:innen im Silicon Valley die Trainingsdaten der KI nach Gutdünken? Vorbei an der Öffentlichkeit, ohne gesellschaftliche Debatte, ohne politisches Mandat?

Das Problem einer politisch korrekten KI

Vor allem aber erweist sich die angestrebte Lösung als das eigentliche Problem. Denn eine KI, die politisch korrekt das unterdrückte Individuum zu Wort kommen lässt, mit Gendersternchen und Genderpronomen, ist eine ziemlich westliche Sache. Mehr noch: Sie würde eine Ideologie exportieren, die selbst im Westen vielen zu weit geht.
Die Sache ist so verzwickt wie die Einigung auf universelle Menschenrechte. Eine dekolonisierte KI ist ein Ding der Unmöglichkeit, denn welche Ideen – über Gott und die Welt – auch immer die KI vertritt, sie kann nicht zugleich die Gegenposition einnehmen. Die Kolonisierung durch KI ist unvermeidbar, sofern diese global operiert. Die Frage ist nur, welche KI den Markt beherrschen wird: die aus den USA oder die aus China.

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören „Facebook-Gesellschaft“ (Matthes & Seitz 2016) und „The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas“ (MIT Press 2018).

Roberto Simanowski
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