Kolossale Lebensgeschichte
Eigentlich erzählt der katalanische Schriftsteller Jaume Cabré das Leben seines Helden Adriá Ardèvol gleich in mehreren Romanen, die zu einem einzigen verwoben sind. "Das Schweigen des Sammlers" ist ein titanisches Werk – sehr detailreich und ein wenig verschwommen.
Es gibt Romanprojekte, die nennt man gigantisch. Es gibt aber gelegentlich auch solche, bei denen man das Wort "gigantisch" als geradezu mickrig empfindet. Jaume Cabré spricht in einer kurzen Danksagung am Ende dieses Romans von "all den Jahren meines Lebens, in denen der Roman nach und nach herangewachsen ist", und vielleicht ist das ein Grund dafür, dass man in diesem Fall auf das Wort "titanisch" verfällt.
Zunächst erzählt dieser Text die Lebensgeschichte von Adriá Ardèvol aus Barcelona, von den Kindheitstagen in den 50er-Jahren bis zu seinem rätselhaften Verschwinden am Ende der 90er-Jahre, das ihn, umnachtet von seiner Demenzerkrankung, ereilt. Der Geisteswissenschaftler, Historiker, Sammler und Ästhet, der nach seinem Studium in Tübingen in Barcelona als Universitätsprofessor und Buchautor als ein klassischer Vertreter der intellektuellen Bourgeoisie gelten kann, stammt dennoch aus etwas "undurchsichtigen" Verhältnissen.
Sein Vater ist ein Antiquitätenhändler, der sich nebenher auch anderen Geschäftsfeldern zuwendet, der sich seine Ware aber auch nicht nur auf allzu ehrbare Weise besorgt. Dazu gehört eine Geige aus dem 18. Jahrhundert, ein wertvolles Stück aus der Werkstatt eines Meisters aus Cremona. Die Intrigen um diese Geige, deren Geschichte natürlich zurückverfolgt wird, werden ihn schließlich das Leben kosten. Aber auch sein Sohn, Adriá, wird in seinem Lebenslauf immer wieder mit der wechselhaften Geschichte dieser Geige konfrontiert. (Unter anderem befand sie sich im Besitz holländischer Juden aus Antwerpen, die nach Auschwitz deportiert wurden, wobei die Geige in den Besitz eines SS-Arztes geriet, der später, in einem illusionslosen Versuch, etwas von seiner Schuld wiedergutzumachen, in Afrika ein Krankenhaus aufbaute.)
Adriás große Liebe Sara, auch sie aus jüdischer Familie, wird lange von ihm getrennt durch die komplizierten Verflechtungen und Konflikte, die es zwischen seiner und ihrer Familie gab. Als sie schließlich (wieder) zueinanderfinden, haben sie Jahre eines befriedigenden Glücks miteinander, die jäh abreißen, als Sara darauf besteht, dass Adriá die Geige an die Nachkommen der jüdischen Vorbesitzer zurückgeben sollte. Jede denkbare Verzweigung, jede denkbare Erzählmöglichkeit schreitet dieser Roman aus.
Er ist ein wahrhaftes Opus magnum. Er durchbricht die stille Übereinkunft, die sonst zwischen Autoren historischer Romane und ihrem Publikum besteht: Viel Text, aber in übersichtlicher Reihung und Erzählfolge, auf dass man eintauche in diese Illustration einer bestimmten Epoche, eines Zeitabschnitts. Cabré mutet seiner Leserschaft beständige Wechsel zu. Aus einer Epoche in die andere, von einer Figur zur nächsten, selbst das komplette Ineinanderfließen der Figuren kommt vor, wenn eine Verhörszene vor einem Tribunal der Inquisition mit einem Verhör in einem KZ von ein und der gleichen Figur vorgenommen wird. Auch die Hauptfigur, Adriá, wechselt beständig zwischen Icherzähler und beschriebener Er-Figur, meist im selben Satz.
Hier liegt durchaus ein Problem dieses Romans, es ist das Problem des "Titanischen". Derart aufgetürmt, derart aufgefüllt "in all den Jahren" mit immer wieder auserzähltem Stoff, ist dieser Text zu einem Koloss angewachsen, der gleich mehrere Romane enthält. Jedes Detail an dieser gewaltigen Masse ist stimmig und sinnvoll, die Konturen des Ganzen freilich verschwimmen ein wenig.
Besprochen von Gregor Ziolkowski
Jaume Cabré: Das Schweigen des Sammlers
Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt und Petra Zickmann
Insel Verlag, Berlin 2011
845 Seiten, 24,95 Euro
Zunächst erzählt dieser Text die Lebensgeschichte von Adriá Ardèvol aus Barcelona, von den Kindheitstagen in den 50er-Jahren bis zu seinem rätselhaften Verschwinden am Ende der 90er-Jahre, das ihn, umnachtet von seiner Demenzerkrankung, ereilt. Der Geisteswissenschaftler, Historiker, Sammler und Ästhet, der nach seinem Studium in Tübingen in Barcelona als Universitätsprofessor und Buchautor als ein klassischer Vertreter der intellektuellen Bourgeoisie gelten kann, stammt dennoch aus etwas "undurchsichtigen" Verhältnissen.
Sein Vater ist ein Antiquitätenhändler, der sich nebenher auch anderen Geschäftsfeldern zuwendet, der sich seine Ware aber auch nicht nur auf allzu ehrbare Weise besorgt. Dazu gehört eine Geige aus dem 18. Jahrhundert, ein wertvolles Stück aus der Werkstatt eines Meisters aus Cremona. Die Intrigen um diese Geige, deren Geschichte natürlich zurückverfolgt wird, werden ihn schließlich das Leben kosten. Aber auch sein Sohn, Adriá, wird in seinem Lebenslauf immer wieder mit der wechselhaften Geschichte dieser Geige konfrontiert. (Unter anderem befand sie sich im Besitz holländischer Juden aus Antwerpen, die nach Auschwitz deportiert wurden, wobei die Geige in den Besitz eines SS-Arztes geriet, der später, in einem illusionslosen Versuch, etwas von seiner Schuld wiedergutzumachen, in Afrika ein Krankenhaus aufbaute.)
Adriás große Liebe Sara, auch sie aus jüdischer Familie, wird lange von ihm getrennt durch die komplizierten Verflechtungen und Konflikte, die es zwischen seiner und ihrer Familie gab. Als sie schließlich (wieder) zueinanderfinden, haben sie Jahre eines befriedigenden Glücks miteinander, die jäh abreißen, als Sara darauf besteht, dass Adriá die Geige an die Nachkommen der jüdischen Vorbesitzer zurückgeben sollte. Jede denkbare Verzweigung, jede denkbare Erzählmöglichkeit schreitet dieser Roman aus.
Er ist ein wahrhaftes Opus magnum. Er durchbricht die stille Übereinkunft, die sonst zwischen Autoren historischer Romane und ihrem Publikum besteht: Viel Text, aber in übersichtlicher Reihung und Erzählfolge, auf dass man eintauche in diese Illustration einer bestimmten Epoche, eines Zeitabschnitts. Cabré mutet seiner Leserschaft beständige Wechsel zu. Aus einer Epoche in die andere, von einer Figur zur nächsten, selbst das komplette Ineinanderfließen der Figuren kommt vor, wenn eine Verhörszene vor einem Tribunal der Inquisition mit einem Verhör in einem KZ von ein und der gleichen Figur vorgenommen wird. Auch die Hauptfigur, Adriá, wechselt beständig zwischen Icherzähler und beschriebener Er-Figur, meist im selben Satz.
Hier liegt durchaus ein Problem dieses Romans, es ist das Problem des "Titanischen". Derart aufgetürmt, derart aufgefüllt "in all den Jahren" mit immer wieder auserzähltem Stoff, ist dieser Text zu einem Koloss angewachsen, der gleich mehrere Romane enthält. Jedes Detail an dieser gewaltigen Masse ist stimmig und sinnvoll, die Konturen des Ganzen freilich verschwimmen ein wenig.
Besprochen von Gregor Ziolkowski
Jaume Cabré: Das Schweigen des Sammlers
Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt und Petra Zickmann
Insel Verlag, Berlin 2011
845 Seiten, 24,95 Euro