Im Schatten der Coronakrise explodiert die Gewalt
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Vom Friedensprozess ist derzeit in Kolumbien wenig zu spüren. Attentate und Morde haben sich in den letzten Monaten vervielfacht. Wer für den Frieden und für Menschenrechte kämpft, ist in Lebensgefahr. Die Coronakrise hilft den Verbrechern.
In Kolumbien wütet – wie in vielen Ländern Lateinamerikas – Corona. Aber mehr als das Virus fürchten viele Menschen das, was sich klammheimlich im Schatten der Pandemie entwickelt.
"Am 27. Dezember wurde ich Opfer der Paramilitärs", berichtet Guillermo Tenorio Vitonas, ein Überlebender der ausufernden Gewalt in Kolumbien. Als Indigener gehört er einer besonders gefährdeten Gruppe. "Sie haben mich abgefangen, auf den Boden geworfen und feuerten drei Schüsse auf meinen Kopf ab, aber der liebe Gott hat mich beschützt: Sie haben drei Mal abgedrückt und keine der Kugeln ging los. In diesem Augenblick kam eine Polizeipatrouille vorbei und hat mich gerettet."
Der Staat schützt seine Bürger nicht
Die brutalen Morde an sozialen Aktivistinnen und Aktivisten haben in den letzten Monaten erschreckend zugenommen. Und das alles unter dem Radar der Öffentlichkeit, denn die Corona-Pandemie dominiert die Nachrichten. In den letzten Wochen haben sich Betroffene zu einem Marsch in die Hauptstadt Bogotá aufgemacht. Der Student José Daniel Gallego erklärt:
"Wir marschieren für unsere Würde, für das Leben. Wir wenden uns nicht an unsere Regierung, sondern wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, an die Entwicklungszusammenarbeit, an Personen, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte einsetzen, weil unser Staat uns umbringt."
Mehr als 500 Kilometer marschierte Gallego aus der Region Cauca nach Bogotá. Zum Marsch der Würde gehören Studenten, Menschenrechtsvertreter, Gewerkschafter und Führer der indigenen Gemeinschaften. Sie eint ein Ziel: dem Morden von Aktivisten ein Ende zu setzen, indigenen und sozial Benachteiligten ein menschenwürdiges Leben zu geben. Katherine Pencuo ist vom indigenen Volk der Nasa:
"Es gibt keine Garantien für unser Leben. Wir sind autonom. Wir haben unsere indigenen Garden, denn weder die Polizei noch die Armee schützen uns. Und wenn die zu uns kommen, dann vergewaltigen sie die Mädchen wie meine Bekannte Vera. Wir sind hier, weil wir als Frauen diese Verbrechen anzeigen wollen, Respekt verlangen, wir lehnen diese Morde an Frauen ab. "
Jeden Tag ein politisch motivierter Mord
166 Aktivisten, sieben ihrer Familienangehörigen und 36 ehemalige FARC-Guerilleros wurden nach Angaben von Indepaz, dem Institut für Entwicklung und Frieden, bislang allein in diesem Jahr ermordet: praktisch einer jeden Tag. Wer sich in Kolumbien für Indigenen- und Menschenrechte, für soziale Belange engagiert oder als ehemaliger Guerillero für den Frieden entschieden hat, lebt gefährlich. Besonders betroffen sind die Regionen Cauca, Huila und Antioquia.
Zuletzt haben die Morde drastisch zugenommen. Senator Ivan Cepeda vom Polo Democrático:
"Einer Studie der Stiftung Frieden und Versöhnung zufolge hat die Gewalt gegen Aktivisten in Kolumbien während der Pandemie um 53 Prozent zugenommen. Da die Medien fast ausschließlich über die Pandemie berichten, findet diese makabre Entwicklung praktisch unbemerkt von der Öffentlichkeit statt."
Die mit der Pandemie verbundenen drastischen Ausgangsbeschränkungen in Kolumbien erleichtern den Mördern ihr schmutziges Geschäft, glaubt die Sozial- und Friedensarbeiterin Xiomara Loanga.
"In der Pandemie haben die Morde zugenommen, weil die Aktivisten zu Hause bleiben müssen und dann dort leicht heimgesucht werden können."
Xiomara Loanga, 42 Jahre alt, musste aus ihrem Dorf Jamundi fliehen. Sie wurde bedroht, weil sie sich weigerte, die Aufenthaltsorte von Aktivisten preiszugeben. Jetzt wartet sie mit Mann und zwei kleinen Kindern auf Asyl in Deutschland. Ihr Antrag wurde neulich erst einmal abgelehnt.
167 indigene Führer wurden in zwei Jahren umgebracht
Auch Guillermo Tenorio Vitonas floh vor der Gewalt in Kolumbien. Der Mitbegründer des indigenen Dachverbandes in Kolumbien entging im Dezember nur knapp dem Tod. Der mittlerweile siebzigjährige Guillermo fühlt sich in seiner Heimat nicht mehr sicher. Der Staat schützt die Aktivisten nicht – Guillermo wirft dem Präsidenten Ivan Duque sogar vor, für die Ermordung von indigenen und Menschenrechtsaktivisten mitverantwortlich zu sein.
"Der Präsident gibt Anweisung, uns zu töten. Das steht in einem Flugblatt der Aguilas Negras, der paramilitärischen Gruppe der Schwarzen Adler. Sie kündigen an, alle Aktivisten und indigenen Führer zu töten, das sei ein militärisches Ziel, damit die dem Präsidenten Ivan Duque das Leben nicht mehr schwermachen. Nur wenn man alle Anführer tötet, hören sie auf, die Straßen zu boykottieren und vom Präsidenten Ländereien zu verlangen."
Ein Flugblatt einer Gruppe Gesetzloser ist natürlich kein Beweis. Auffällig indes ist schon, dass seit Duques Amtsantritt die Morde an Aktivisten in die Höhe geschnellt sind. Allein 167 indigene Führer wurden in den zurückliegenden beiden Jahren ermordet. Bei der Einsetzung neuer Offiziere vor einigen Wochen zeigte sich der Präsident allerdings problembewusst. Ivan Duque:
"Heute mehr denn je bekräftigten wir unsere Überzeugung, dass das Leben von Aktivisten geschützt werden muss, die der Drogenhandel, die Betreiber von illegalem Bergbau oder andere Kriminelle ermorden."
Wobei die Regierung von weniger als der Hälfte der Morde ausgeht, die unabhängige Institute wie Indepaz ausweisen. Mit Kopfgeldern für die Mörder wird versucht, der Täter habhaft zu werden – laut Regierung angeblich mit Erfolg. Allerdings musste die Menschenrechtsberaterin der Regierung Nancy Patricia Gutierrez vor wenigen Tagen auf eine Video-Pressekonferenz zugeben:
"Es ist richtig, dass diese Gruppierungen durch die Pandemie ihre Positionen in den Regionen ausgebaut und gefestigt haben. Das Verteidigungsministerium und die Streitkräfte haben allerdings eine Strategie entwickelt, um die empfindlichsten Gebiete besser abzusichern."
Versöhnung ja, aber zu welchem Preis?
Das ist ein Kernproblem des Friedensprozesses: Das Vakuum, das die FARC-Guerilla nach ihrer Entwaffnung im Zuge des Friedensprozesses in manchen Regionen hinterlassen hatte, wurde nicht vom Staat, sondern von kriminellen Gruppierungen gefüllt. Die kolumbianische Gesellschaft bleibt tief gespalten – in sozialer Hinsicht und über den Friedensprozess mit der FARC-Guerilla.
"Wir tragen alle Verantwortung auf verschiedene Weise: Da ist die Verantwortung der Guerilla, der FARC, da gibt es die Verantwortung der Paramilitärs, die der Streitkräfte, es gibt die Verantwortung der Präsidenten über 60 Jahre hinweg – aber auch wir Zivilpersonen tragen aufgrund fehlender Solidarität Verantwortung für das Geschehene. Angesichts so vieler Morde, die wir schweigend hingenommen haben, müssten wir viel Schmerz verspüren."
Sagt Pater Francisco de Roux, Präsident der Wahrheits- und Versöhnungskommission – auch und gerade, weil das Morden weitergeht.
Seine Rolle als Vermittler ist wichtig, meint Sabine Kurtenbach vom GIGA-Institut für Lateinamerikastudien. Allerdings gibt es komplexe Interessenlagen, die einer Versöhnung im Weg stehen. Die sogenannte "illegale Ökonomie" floriert nach wie vor, dazu gehört der Drogenhandel, aber auch die illegitime Ausbeutung von Rohstoffen wie Gold, Menschenhandel und der Schmuggel von geschützten Tieren. Ein stabiler Frieden würde die Profiteure dieser Geldquellen in Bedrängnis bringen, ein funktionierender Staat sowieso. Die Politik auf nationaler und auf lokaler Ebene ist aber, so Sabine Kurtenbach, nicht selten in die schmutzigen Geschäfte involviert, oft durch Korruption. Nur eine starke Zivilgesellschaft kann hier Abhilfe schaffen, aber die ist im Moment ganz besonders bedroht.
Kein Frieden mit der Regierung Duque
Das Friedensabkommen von 2016 konnte bisher nicht effektiv durchgesetzt werden, weil zum Beispiel Programme für ehemalige Guerilleros oder für Bauern, die vom Cocoa-Anbau leben, nur bedingt greifen. Viele guten Ansätze, die Hoffnung machen, werden aufgrund von lokalen Interessen torpediert, sodass den Menschen gar nichts anders übrigbleibt, als so weiterzumachen wie vorher. Eine Aussicht auf Frieden gibt es in Kolumbien dank der vielen Engagierten dennoch, aber Geduld ist gefragt, meint Sabine Kurtenbach:
"Man muss jetzt sehen, wie die Pandemie, durch die wir gehen, das Kräfteverhältnis verschiebt und was nach der Regierung Duque kommt. Es wird mit dieser Regierung zwar nicht zum Bruch des Friedensabkommens kommen, aber es wird auch nicht substantiell vorangehen."