Linke APO, rechte APO
1968 markiert eine Zäsur in der Geschichte der BRD: Die junge Generation wollte aufräumen mit dem NS-Staat. Ironie der Geschichte: Vom Furor ihres Protests lernt heute ausgerechnet die Neue Rechte.
'68 war ein historischer Umschlagpunkt, so viel steht außer Frage. Denn Rudi Dutschke und die sonstigen führenden Köpfe der Bewegung wollten eine andere, sozialistische Gesellschaft ohne Berufspolitiker und verfestigte Parteien. Sie träumten vom neuen Menschen, der sich seiner geschichtlichen Situation dank ihrer Anleitung endlich bewusst wird. Sie riefen zur Weltrevolution auf und fühlten sich mit deren Protagonisten in aller Herren Länder verbunden.
Darin lag für sie der Zauber des großen Augenblicks, den ihre Gegner umso fürchterlichen fanden. Widerstand gegen Hochschul- und Notstandsgesetze, gegen Imperialismus im Allgemeinen und den Vietnam-Krieg im Besonderen, die Befreiung der Dritten Welt, der Sexualmoral und der Lebensstile - um all das kümmerten sich die 68er.
Zeitversetzte Gegenreaktion auf den NS-Staat
Doch ihr stärkstes Impuls war eine zeitversetzte Gegenreaktion auf den totalitären NS-Staat, den die vorangegangene Generation errichtet und bis zum Untergang erhalten hatte.
"Das ist die Generation von Auschwitz. (…) Man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht diskutieren", soll Gudrun Ensslin am 2. Juni 1967 nach dem gewalttätigen und letztlich tödlichen Einsatz von Polizisten gegen Anti-Schah-Demonstranten gerufen haben. Den Einsatz leitete bezeichnenderweise Hans-Ulrich Werner, ehemaliges NSDAP-Mitglied, vom Reichsführer SS Heinrich Himmler mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet.
Das Tarnkleid der Demokratie
Nicht nur aus der Perspektive Ensslins, der späteren RAF-Terroristin, war die junge Bundesrepublik ein nationalsozialistisch verseuchtes Land im Tarnkleid der Demokratie – und keinesfalls ein leuchtender Verfassungsstaat, eine geglückte Konsequenz aus dem braunen Unheil. Daher die grundlegende Ablehnung, die sich nicht in gewöhnlichem Protest, Demonstrationen und zivilem Ungehorsam erschöpfte.
Einige entschieden sich mit Ensslin für rohe Gewalt, während die Ideologen im Sozialistischen Studentenbund und in der Außerparlamentarischen Opposition versuchten, dem erhofften Umsturz intellektuell den Weg zu bereiten.
Die 68er haben den Staat als solchen herausgefordert, bevor sie selbst in die ursprünglich verachteten Institutionen eintraten und seine Repräsentanten wurden. Kein späterer Protest – weder die Anti-Atomkraft-Bewegung noch die Friedensbewegung der 80er Jahre – entfaltete je einen ähnlichen anti-staatlichen Furor.
Stresstoleranz nach anti-staatlichem Furor
Im Rückblick scheint es so, als habe die junge Bundesrepublik mit den Aktivitäten der 68er Sinn und Unsinn von Widerstand und zivilem Ungehorsam wie im Crashkurs gelernt und danach – zieht man den RAF-Terror ab – eine gehörige Stresstoleranz entwickelt.
Es ist selbstverständlich geworden, dass die Zivilgesellschaft etwa in Form von NGOs und Bürgerinitiativen gegen staatliche Entscheidungen operiert – nur: ohne revolutionäre Absichten.
Nach der Neuen Linken kommt die Neue Rechte
Und heute? Nachdem die 68er-Linke ihren Frieden mit dem Staat gemacht hat, tritt die Neue Rechte auf den Plan.
Rudi Dutschke und seine Mitstreiter haben einst hochmütig beansprucht, für das in Unmündigkeit gehaltene Volk zu sprechen und die echten Wünsche der Bürger zu formulieren. Heute behaupten AfD und Pegida, die Sprachrohre des wahren Volkes zu sein, das mit seiner Stimme im Mainstream-Sound von "Altparteien" und "Lügenpresse" angeblich nicht durchdringt.
Heftigster Angriff seit 1968
Es klingt nach bitterer Ironie: Aber der rechte Angriff auf die herrschenden Verhältnisse könnte tatsächlich der heftigste seit dem linken Angriff von 1968 werden, der sich gerade der Reinigung von braunen Hinterlassenschaften verschrieben hatte.
Sie lernen vom zivilen Ungehorsam und der rebellischen Attitüde der 68er – aber in ihrer autoritären Zukunftsgesellschaft hätte der Ungehorsam keinen Platz mehr.