In der neuen Reihe "Haben wir da etwas übersehen?" widmet sich die Literaturkritikerin Sigrid Löffler Themen, die im Feuilleton zu kurz gekommen sind.
Pubertät als einzigartiges Weltereignis
Während uns Frauen derzeit literarisch die Welt erklären, beschäftigen sich die schreibenden Männer nur noch mit sich selbst. Besonders beliebt: die Verklärung der eigenen Jugend zum Drama. Egal, wie mickrig und banal sie in Wahrheit gewesen sein mag.
Wovon handeln die Romane weiblicher Autoren in diesem Herbst? Die Frauen legen die Hand auf die ganze Welt. Sie entwerfen große zeithistorische Panoramen, machen berühmte Frauen der Vergangenheit zu Romanheldinnen, thematisieren Probleme, die uns heute umtreiben. Siehe die neuen Romane von Ursula Krechel, Inger-Maria Mahlke, Katharina Adler, Karen Duve oder Juli Zeh.
Und worüber schreiben männliche Autoren? Deutschsprachige Autoren der mittleren Generation scheinen sich derzeit wenig oder gar nicht für die Welt der Erwachsenen und deren Probleme zu interessieren. Sie verweigern sich der Gegenwart, kehren sich ab von der Welt von heute. Sie kümmern sich derzeit nur noch um sich selbst – weil’s doch sonst keiner macht!
Versunken in Nostalgie
Ihre neuen Romane schreiben sie jedoch nicht aus dem Blickwinkel gestandener Fünfziger oder sogar Sechziger, die sie heute sind. Sie betrachten sich selbst nicht als Erwachsene, sondern widmen sich dem Rückblick auf die ganz besonderen Jünglinge, die sie einst waren oder gewesen sein wollten.
Sie versinken knietief in Nostalgie. Sie sehnen sich zurück in die Zeit der 1970er und 1980er Jahre, als sie noch kleine Jungs oder pubertierende Jugendliche waren, vorzugsweise in irgendeinem windstillen Winkel in der Provinz, aus dem sie sich fortsehnten.
Vielleicht haben wir da etwas übersehen: Der mittelalte Mainstream-Autor von heute, ob er nun Wolf Haas heißt, Thomas Klupp oder Hanns-Josef Ortheil, will offenbar gar nicht erwachsen sein. In seinen Romanen betreibt er Selbst-Infantilisierung. Er flüchtet vor der Gegenwart. Er sucht das Kind in sich.
Er beobachtet sich selbst lustvoll beim Regredieren. Selbstverliebt kuschelt er sich zurück in die eigene Pubertät. Liebevoll beugt er sich über sein eigenes juveniles Selbst, den faszinierenden Mittelpunkt seiner Welt.
Schleusen der Beredsamkeit
Wenn er an sich als Jüngling zurückdenkt, öffnen sich bei ihm alle Schleusen der Beredsamkeit. Die eigene Pubertät wird beschrieben als ein unvergleichliches und einzigartiges Weltereignis von absoluter Niedagewesenheit.
Stillschweigend vorausgesetzt wird, dass das Drama des eigenen Heranwachsens, wie mickrig und banal es in Wahrheit gewesen sein mag, auch das Lesepublikum in den Bann schlagen muss. Unfreundlicher gesagt, könnte man diese Romane auch Produkte eines verblendeten Narzissmus nennen.
Diese Romane fragen: Wie war das damals? Wie hat man sich damals gefühlt: mit 14 oder 15, im Schatten junger Knabenblüte, als lyrisch gestimmter, verträumter Schüler mit unklaren Sehnsüchten und namenlosen Wünschen?
Wolf Haas beschreibt sich als 14-jährigen Internatsschüler in der österreichischen Provinz. Übergewichtig und erstmals romantisch verliebt in eine unerreichbare Frau, derentwegen er 15 Kilo herunterhungert. Heute mit 58 Jahren, bekennt sich Haas offensiv zur eigenen Unreife, wenn er von sich sagt, er habe sich bewusst entschieden, "die Pubertät niemals ganz loszulassen und sich kein richtiges Erwachsenenleben anzutun".
Je älter der Autor, desto jünger der Romanheld
Hanns-Josef Ortheil nennt seine verklärten Teenager-Reminiszenzen selbst "Roman eines Heranwachsenden" und beschreibt sich als Sechzehnjährigen, der erstmals mit dem Papa auf Reisen gehen darf.
Von Thomas Klupp könnte man sagen: Je älter der Autor wird, desto jünger werden seine Romanhelden. Klupp gehört allerdings nicht zur lyrischen Pubertätsfraktion, sondern eher zur flotten Schabernack- und Schelmen-Fraktion.
In seinem neuen Roman "Wie ich fälschte, log und Gutes tat" regrediert er mit seinem Helden zum Schuljungen. Er blickt zurück auf einen lernfaulen 15-jährigen Gymnasiasten in einer oberpfälzischen Kleinstadt, der mit Schüler-Streichen, Knutschen, Kiffen, Besaufen und Porno-Gucken vollauf beschäftigt ist und dem Autor zum Verwechseln ähnelt.
Männer unter Rechtfertigungsdruck
Nicht ganz zufällig fühlen sich auch zwei Journalisten mittleren Alters und mittlerer Karriere gedrängt, jetzt mit über Fünfzig Debütromane zu schreiben und darin ihr Jünglingsleben im Ruhrpott beziehungsweise in der norddeutschen Provinz vor dem Leser auszubreiten:
Hilmar Klute von der Süddeutschen Zeitung und Dirk Knipphals von der "taz", beide mit dem Drang nach Höherem. Beide porträtieren sich in ihren Romanhelden als feurige, dichtende Provinzknaben, beseelt vom Wunsch, Schriftsteller zu werden. "Ich will Gedichte schreiben und davon leben!", verkündet Klutes Held. Und Knipphals jugendlicher Held fühlt sich beim Schreiben als "Herr über Leben und Tod auf diesen Seiten, ein heißes, heftiges Gefühl".
Mag sein, dass ältere Männer, die als Dichter gestartet und als Journalisten gelandet sind, sich unter besonderem Rechtfertigungsdruck fühlen. Aber müssen sie das Lesepublikum unbedingt daran teilhaben lassen?
Literaturliste
Wolf Haas: "Junger Mann"
Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2018
240 Seite, 22 Euro
Hanns-Josef Ortheil: "Die Mittelmeerreise. Roman eines Heranwachsenden"
Luchterhand Verlag, München 2018
640 Seite, 24 Euro
Thomas Klupp: "Wie ich fälschte, log und Gutes tat"
Berlin Verlag, Berlin 2018
255 Seite, 20 Euro
Hilmar Klute: "Was dann nachher so schön fliegt"
Galiani Verlag, Berlin 2018
368 Seite, 22 Euro
Dirk Knipphals: "Der Wellenreiter"
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2018
352 Seite, 22 Euro