Kolumne zur Integration

Vertriebene damals, Flüchtlinge heute

Die Vertreibung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg geht auf Verfügungen des damaligen tschechoslowakischen Staatsoberhaupts Edvard Benes (1884-1948) zurück. Die etwa 150 von Benes zwischen 1940 und 1945 erlassenen Dekrete gehören zu den umstrittensten europäischen Rechtsakten. Auf der Grundlage der Verfügungen wurden etwa drei Millionen Deutsche sowie die vorwiegend in der Slowakei lebende ungarische Minderheit ihrer Rechte und ihres Eigentums beraubt.
Sudetendeutsche verlassen im Juli 1946 ein Lager in Liberec (Reichenberg) in Nordböhmen. © picture alliance / dpa / CTK_Photo
Von Arno Orzessek |
In Jahrzehnten denken: Beim vergleichenden Blick auf den Umgang mit Flüchtlingen könne man aus der Geschichte lernen, meint unser Kolumnist Arno Orzessek. Nach dem Zweiten Weltkrieg etwa war der Begriff "Integration" für Millionen geflüchtete Deutsche noch völlig ungebräuchlich.
Keine Frage, der Schlüsselbegriff in der aktuellen Flüchtlingsdebatte lautet "Integration": Ein Wort, das nach dem Zweiten Weltkrieg, als etwa 14 Millionen Vertriebene und Geflüchtete aus ehemaligen Reichs-Gebieten im Osten in die Besatzungszonen strömten, noch völlig ungebräuchlich war. Erst Jahrzehnte später begann man in der Bundesrepublik, von der "letztlich erfolgreichen Integration" zu sprechen und sie nachträglich zu einem positiven Gründungsmythos zu stilisieren.
Auch der damalige Bundespräsident Johannes Rau leistete im Jahr 2000 Arbeit an diesem Mythos. Er fügte allerdings kritisch hinzu, dass die Integration "am Anfang alles andere als leicht war" - eine starke Untertreibung. Tatsächlich waren bis weit in die 50er-Jahre hinein Ablehnung, Diffamierung und blanker Hass an der Tagesordnung, inklusive rassistischer Vorbehalte von Deutschen gegen Deutsche.

Rassistische Töne von Deutschen gegen Deutsche

Der Flensburger Landrat Johannes Tiedje schrieb 1946, Schleswig-Holsteiner und Niederdeutsche würden ein Leben führen, "das in keiner Weise sich von der Mulattenzucht ergreifen lassen will, die der Ostpreusse nun einmal im Völkergemisch getrieben hat." Jakob Fischbacher, Gründungsmitglied der Bayernpartei, hielt es für "Blutschande", wenn ein heimischer Bauer eine "norddeutsche Blondine" heiratet, und wollte "die Preußen gleich nach Sibirien" verschicken. Ein Weinbauer des bis heute erfolgreichen Gutes Weil im Rheingau ging noch weiter: "Ihr Flüchtlinge gehört alle nach Auschwitz in den Kasten!"
Vor einigen Jahren hat der Historiker Andreas Kossert nachgewiesen: Solche Ressentiments waren in der Nachkriegsgesellschaft tief verwurzelt; im Alltag wurden die Vertriebenen vielfach brutal ausgegrenzt.
Nicht besser ging's in der DDR zu - zumal das SED-Regime aus ideologischen Gründen und mit Rücksicht auf die neuen sozialistischen Bruderstaaten das Wort "Vertriebene" vermied und deren Existenz praktisch leugnete. "Umsiedler" hießen sie im offiziellen Sprachgebrauch.

Eingliederung als Vorläufer-Begriff

Natürlich liegen die Unterschiede zwischen der damaligen und der heutigen Situation auf der Hand. Flüchtlinge aus Asien und Afrika konfrontieren die hiesige Gesellschaft unter ethnischen, sprachlichen, religiösen und kulturellen Gesichtspunkten mit neuen, unbekannten Herausforderungen. Gleichwohl lohnt sich ein Blick auf die Faktoren, die damals zur allmählichen "Eingliederung" - so hieß der Vorläufer unserer Integration - beigetragen haben.
Da war das Lastenausgleichsgesetz von 1952, durch das mithilfe von Vermögensabgaben für Einheimische die Vertriebenen in einem gewissen Umfang für ihre Verluste entschädigt wurden. Der Lastenausgleich schürte allerdings Ressentiments, die den heutigen Klagen über die Bevorzugung der Flüchtlinge teils aufs Wort gleichen. Unstrittig ist, dass die Vertriebenen vom wirtschaftlichen Aufschwung in der jungen Republik genauso profitiert haben, wie sie ihn gleichzeitig - durch ihren oft betonten Fleiß und ihre teils gute Ausbildung - massiv beförderten.

Bildung als Grundlage für Teilhabe der Einwanderer

Heute steht die hochentwickelte Bundesrepublik wirtschaftlich vergleichsweise gut da. Ein weiteres "Wirtschaftswunder", das alle noch weiter emporreißt und so bestehende Verwerfungen zudeckt, erscheint ausgeschlossen. Sofern die Integration und Teilhabe der Migranten trotzdem das gesellschaftliche Ziel bleibt, kann die Parole wohl nur "Bildung, Bildung, Bildung" lauten - als entscheidende Grundlage für alles weitere.
Damals haben sich die Vertriebenen in - politisch weit rechts stehenden - Heimatverbänden organisiert, in denen sie nicht nur ihre kulturellen Traditionen pflegten, sondern auch die Träume von der Rückkehr in die alte Heimat verfolgten. Heute wissen wir nicht, wie Migrantengemeinschaften ihre kulturellen Traditionen pflegen werden, aber sie erfahren eine beispiellose, staatlich wie zivilgesellschaftlich organisierte Betreuung.
Über deren Qualität, Verhältnismäßigkeit und Nutzen lässt sich streiten, aber grundsätzlich gilt: Während die kulturellen Gräben heute objektiv größer sind, sind die strukturellen Bedingungen für Integration viel besser.
Kann man aus der Geschichte lernen? Ja – nämlich nicht kurzfristig, sondern in Jahrzehnten zu denken!
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