"Kommen Sie morgen wieder!"
Regisseur Claus Peymann und Thomas Bernhard sorgten als Duo Infernale für manchen Theaterskandal. Humorvoll beschreibt Peymann den langen Prozess einer persönlichen Annäherung anlässlich des 80. Geburtstags des österreichischen Schriftstellers.
Joachim Scholl: Er war einer der sprachmächtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts und wohl der schärfste Kritiker seiner Heimat Österreich: Thomas Bernhard. Vor allem seine Theaterstücke, sie machten wiederholt Skandale, konservative Politiker in seiner Heimat forderten sogar die Ausbürgerung des Schriftstellers. Thomas Bernhard ist 1989 gestorben, heute am 9. Februar 2011 wäre er 80 Jahre alt geworden. Wir waren neulich zu Besuch im Berliner Ensemble, wo Claus Peymann der Chef ist, und den Regisseur verbindet eine lange, lange Beziehung zu Thomas Bernhard. Ich grüße Sie, Herr Peymann!
Claus Peymann: Hallo!
Scholl: Von 20 Theaterstücken Thomas Bernhards haben Sie 16 inszeniert, Sie waren der Regisseur für ihn. Können Sie sich noch an Ihre erste persönliche Begegnung mit ihm erinnern?
Peymann: Das war wahnsinnig. Ich war ja noch ein relativ junger Regisseur und lebte in Hamburg und bekam das erste Stück, "Ein Fest für Boris", in die Hände, was kein Mensch inszenieren wollte. Man gab mir das und sagte, wie finden Sie denn das? – Das mach ich sofort! Wo ist der Dichter? – Ja, der wohnt da auf dem Land, in Österreich. Da hab ich mich in den Zug gesetzt, also nicht so wie heute, wie man sich das vorstellt, sondern ich bin dann also sonst wie jwd über die Dörfer, bin ich dann endlich doch in Ohlsdorf-Obernathal, wo er einen Bauernhof besitzt, bin ich also angekommen und es war kein Mensch da. Hab ich da geklopft: Nix. Und keine Klingel, gar nichts. Und dann habe ich die Nachbarn gefragt, ja da wohnt so ein etwas merkwürdiger Mann, der bleibt oft nachts weg, wissen Sie, so ungefähr. Hab ich einen Zettel drangemacht: Ich möchte Ihr Stück inszenieren, ich gehe ... Bin dann ins nächste Dorf gewandert, so vielleicht drei Kilometer entfernt nach Ohlsdorf und habe dann da den ganzen Abend gesessen in einer Wirtsstube, wo wirklich das ganze Personal der Bernhard-Welt saß. Ich hatte damals gerade "Frost" gelesen, der erste ganz große Roman, also ein richtiger Weltseller. Und da saßen dann diese ganzen Typen rum, die Holzknechte mit also drei Fingern und ohne Bein, also das war das ganze Personal. Ich habe mich dann so ein bisschen betrunken da und im Fernsehen lief "Drei Musketiere" und hab mir dann da ein Zimmer genommen. Und nachts um vier reißt plötzlich jemand die Tür von diesem kleinen Hotelzimmer auf, reißt mir die Bettdecke weg: Wer sind Sie? Was wollen Sie? Was machen Sie hier? – Das war der Thomas Bernhard! – Sie müssen sofort aufstehen und mit mir reden! Dann sind wir in die benachbarte Papierfabrik in Steyrermühl, das ist ganz in der Nähe seines Hauses, da sind wir dann in der Kantine gelandet, die hat die ganze Nacht auf, und da haben wir dann bis zum Morgengrauen uns irgendwie, soweit man das damals konnte, angefreundet. Wir haben über das Stück "Ein Fest für Boris" geredet und ich bin dann irgendwie in diese Bernhard-Welt eingedrungen. Man muss sich das ein bisschen so vorstellen, dass, nach einiger Zeit wird man unwillkürlich zu einem Mitspieler in dieser Welt. Also ich habe durch Thomas Bernhard zum Beispiel den einzigen mir bekannten Doppelmörder kennengelernt. Also er hat Figuren angezogen, Kranke, Verrückte, Spinner, Mörder, Theaterregisseure …, man hatte immer das Gefühl, wenn ich nicht aufpasse, bin ich irgendwann auch ein Teil dieser Welt. Also das war die Anfangsangst.
Scholl: Ich meine der öffentliche Thomas Bernhard war so der Hagestolz, der unerbittliche Kritiker, der auch auf Höflichkeiten pfiff, bei so mancher Preisverleihung verließen Politiker hochroten Kopfes den Saal ... Ich meine, wie haben Sie den privaten Thomas Bernhard über die Jahre auch erlebt? Also diese erste Begegnung war ja schon sehr ...
Peymann: ... war schroff ...
Scholl: ... war schroff, ja ...
Peymann: ... ich musste mich auch über Jahre ranarbeiten! Ich bin dann sehr, sehr oft ... Es waren ja immer wieder neue Stücke, hab ich ihn sehr oft besucht. Ich wohnte dann in sämtlichen Dorfgasthöfen Oberösterreichs rund um Gmunden und Ohlsdorf herum, kenne also jede noch so harte Bettlake in der Gegend, kam dann ganz langsam aber ins Haus. Erst hab ich vor dem Badezimmer auf dem Boden geschlafen und kam dann später – das Haus ist ja sehr geräumig, kann man übrigens besichtigen, da ist ein sehr interessantes, ein ganz wunderbares Bauernhaus, was er so ausgebaut hat, also ich kenne es noch im ganz frühen Stadium –, und hab dann so langsam, im Laufe der Jahre bin ich dann auch in die besseren Zimmer vorgedrungen, meist in zu kleinen Betten, weil er hatte so Empirebetten, wo ich, weil ich zu groß dafür war, musste ich immer mit angezogenem Knie schlafen. Es hat sich dann angenähert. Am Ende und auch zwischendurch konnte ich ihn kennenlernen als einen unerhört liebenswürdigen Menschen. Natürlich total konsequent. Wenn Sie zu spät kamen, wenn Sie um neun im Kaffeehaus verabredet waren und Sie waren um eine Minute nach neun nicht da, war er weg! Kommen Sie morgen wieder! Also das blieb bis zum Schluss so, also ein fast preußischer Österreicher. Und es war aber, und das ist glaube ich sehr wichtig das zu sagen, ein unerhört liebenswürdiger, fürsorglicher, fast väterlicher Mensch. Also er hat sich aufgeregt, wenn ich im Winter mit Jeans gereist bin, oder dass meine Freundin ein zu billiges Auto hat. Er sagte, wenn Sie damit fahren, sind Sie mit 30 schon tot! Also er war wirklich liebevoll, sehr witzig, ein Redemensch, ein Rede- und ein Zeitungsmensch. Also was uns verband, war vor allem das Zeitungslesen. Wir haben uns dann immer morgens im Kaffeehaus getroffen zum Kipferl, Nusskipferl, und haben uns gegenseitig aus den Zeitungen vorgelesen. Aber wie gesagt, ich hab ja auch mal mit ihm Ferien gemacht und dann, bis Wien hin war das dann doch eine Art Freundschaft, soweit man mit einem Genie befreundet sein kann, geworden.
Scholl: Wie war das in Wien dann? Also Sie haben Bernhard schon während Ihrer gesamten Karriere, also in Hamburg, in Bochum, in Stuttgart ...
Peymann: ... Salzburg, Hamburg, Bochum, ja ...
Scholl: ... haben Sie inszeniert, aber legendär wurden ja die Aufführungen im Wiener Burgtheater. 13 Jahre waren Sie selbst da, Herr Peymann, wurden da zu einer Berühmtheit, und zusammen mit Bernhard, dessen Stücke Sie an der Burg ja regelmäßig aufgeführt haben, für alle konservativen Österreicher so was wie eine Hassfigur. Also Peymann und Bernhard, die gehörten irgendwie zusammen, das sind Feinde Österreichs. Hat Sie das ja noch mehr mit ihm zusammengeschmiedet?
Peymann: Also das waren einige, und die meisten, die das sagten, das sind Nestbeschmutzer. ... Also ich so hier der großmaulige Deutsche, der alles besser weiß – und das stimmt ja auch, ich bin ja auch ein Großmaul und weiß ja auch alles besser, aber ich habe wirklich relativ viel Humor, das hat dann irgendwann doch die Herzen geöffnet –, aber er, er galt als auch bei den Burgschauspielern selber als der Nestbeschmutzer und er war für mich natürlich ich will mal sagen der Türöffner für die österreichische Seele. Also nur nicht umarmen lassen, sich nicht vereinnahmen lassen, misstrauisch bleiben, skeptisch. Und ich hab ein großes Aggressionspotenzial von ihm eingeimpft bekommen, eigentlich war er ein geheimer Mitdirektor, also manche wütende Protesterklärung, die ich da veröffentlicht habe, die hatte Thomas Bernhard geschrieben. Und ich meine, kulminieren tat das Ganze natürlich dann in der "Heldenplatz"-Aufführung, die wahrscheinlich zum größten Skandal in der Geschichte des Burgtheaters, in der Geschichte des österreichischen Theaters überhaupt wurde, nämlich ein Stück, das sich mit dem Neofaschismus oder mit dem ewigen Antisemitismus der Österreicher befasste. Und da gab es eben einige wirklich provokante Sätze, sechseinhalb Millionen Debile, die nach einem Führer suchen, damit war Österreich gemeint, und von Ferne tauchte der Haider schon auf. Also diese sogenannte Wahrheit, die ja keine sogenannte war, sondern eine wirkliche Wahrheit, nämlich dass die Österreicher immer geheuchelt haben, sie sind die ersten Opfer des Faschismus, sie sind das erste besetzte Land noch vor Polen – was ja nicht stimmt, sondern die Österreicher waren ja selber aktive Mittäter und in der ersten Reihe vom Hitler und den Nazis –, diese Lüge, die das österreichische Gemüt über Jahrzehnte gepflegt hat, die war nach der "Heldenplatz"-Premiere nicht mehr zu tragen, nicht mehr möglich. Also das heißt, diese Aufführung hat über Nacht plötzlich das Österreich wirklich für eine Schrecksekunde verändert, bis heute. Das war natürlich toll!
Scholl: Thomas Bernhard, heute wäre er 80 Jahre alt geworden. Wir sind im Gespräch mit dem Regisseur Claus Peymann. Diese Packung mit dem "Heldenplatz", die haben Sie Wien wirklich auch im 100. Jubiläumsjahr des Burgtheaters auch noch serviert. Konnten Sie eigentlich hinterher noch ungefährdet mit Thomas Bernhard in den Bräunerhof, seinem bevorzugten Café, gehen, ohne angepöbelt zu werden?
Peymann: Also ich war nie so ein großer Cafégänger, heute ist ja auch der Bräunerhof eine von den Kultstätten, wo die Bernhard-Anbeter aus der ganzen Welt sich versammeln und natürlich auch in dem Hof da in Ohlsdorf. Ich bin nie ein großer Kaffeehausgänger gewesen, insofern bin ich ganz unwienerisch gewesen. Für die Wiener sind ja die Caféhäuser im Grunde die Wohnzimmer. Aber es war in der "Heldenplatz"-Phase so: Also er ist verprügelt worden auf der Straße, ich bin vorm Theater niedergeschlagen worden von aufgebrachten Leuten, man hat bei der "Heldenplatz"-Premiere riesige Misthaufen ausgekippt, so richtig so Lastwagen voll Mist, und wir sind beide mal zusammen auch angespuckt worden, was äußerst unangenehm war. Aber bei allen Feinden und bei dieser Majorität der Konservativen, der Reaktion dieser Lemuren eines früheren Österreich, gab es natürlich auch genau so viele, fast genau so viele Freunde.
Scholl: Wann und wie war Ihre letzte Begegnung mit ihm?
Peymann: Die letzte Begegnung war telefonisch. Er hat mich an einem Morgen zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit angerufen, wir haben sehr früh immer telefoniert, zwischen acht und neun, aber er hat mich um, weiß nicht, um sechs angerufen, zu nachtschlafender Zeit, und hat mich in ein längeres Telefonat verwickelt, bei dem es um nichts ging. Er hat dann Witze gerissen, ob ich nackt bin, und ich sag, ja ich bin total verschlafen und ... Er hat ganz lange geredet, bestimmt Dreiviertelstunde, über nichts, was er sonst nie ... , das waren sonst immer sehr zielgerichtete, zweckmäßige, nüchterne, sachliche Gespräche. Ich hab dann noch zu meiner Freundin gesagt, Mensch, seltsam, jetzt langweile ich mich sogar schon bei den Gesprächen mit dem Bernhard! Später hat sich herausgestellt, dass das ein Abschiedsgespräch war, eine Reihe von seinen, von den engeren Freunden haben ähnliche Gespräche geführt. Und dann ist er wohl gestorben und es lief das Gerücht, wir wurden immer wieder von den Zeitungen berannt, ob wir bestätigen könnten, dass Bernhard tot ist. Sag ich nein, ich hab ja noch gerade mit ihm telefoniert, er, es geht ihm nicht gut, aber ... Dann hab ich den Bruder angerufen, nein, nein, das ist alles in Ordnung, es geht ihm nicht so gut. Dann hab ich gesagt, wissen Sie was, Dr. Fabian – so heißt der Bruder –, ich komme ganz schnell nach Ohlsdorf und streite mich mit ihm! Weil er hat sich immer mit seiner Lebensgefreundin, einer sehr alten Dame, die war schon sehr klapprig manchmal, und da hat er mit ihr unheimlich rumgestritten ganz aggressiv, und dann wurde die wieder total, wurde die reanimiert. Ich hab dem Fabian, wenn ich komme und streite mich mit ihm, dann kommt er wieder ... Ja, sagt er, das ist eine gute Idee, kommen Sie doch am Samstag! Da war er schon tot, wie sich erst herausstellte. Und dann habe ich immer wieder nachgeforscht und irgendwann hab ich, am Mittwochmorgen hieß es dann, hat mich der Fabian angerufen und hat gesagt, wenn irgendwas mit dem Bernhard ist, keine Burgtheaterfahne auf Halbmast, keine Erklärung, nichts! Ich sage, was ist denn passiert? – Nein, nein, gar nichts, ich muss jetzt weg! Da wurde ich misstrauisch und dann haben wir recherchiert, dass tatsächlich eine Beerdigung geplant war um zehn, dann bin ich sofort ins Auto und bin dahingefahren, da war er schon um neun unter der Erde. Und ich war um kurz vor zehn da und es war nur der Bruder, die Halbschwester und eine Zufallspassantin dabei, hat sich also insgeheim verscharren lassen. Wir spielten am gleichen Abend "Heldenplatz", in dem es auch um einen Mann geht, der gerade an dem Tag sich hat verscharren lassen ohne irgendeinen Anhang. Ich kann Ihnen sagen, das sind dann so Theateraufführungen, die man sein Leben lang nicht vergisst, weil natürlich alle die Schauspieler, die "Heldenplatz" spielten, liebten Bernhard und waren mit ihm verbunden, auch durch diese Schlacht um "Heldenplatz". Und an dem Tag das dann zu spielen, das sind diese unvergesslichen Einmaligkeiten überhaupt im Leben.
Scholl: Thomas Bernhard in memoriam. Claus Peymann hat an den Dichter erinnert, ich danke Ihnen!
Claus Peymann: Hallo!
Scholl: Von 20 Theaterstücken Thomas Bernhards haben Sie 16 inszeniert, Sie waren der Regisseur für ihn. Können Sie sich noch an Ihre erste persönliche Begegnung mit ihm erinnern?
Peymann: Das war wahnsinnig. Ich war ja noch ein relativ junger Regisseur und lebte in Hamburg und bekam das erste Stück, "Ein Fest für Boris", in die Hände, was kein Mensch inszenieren wollte. Man gab mir das und sagte, wie finden Sie denn das? – Das mach ich sofort! Wo ist der Dichter? – Ja, der wohnt da auf dem Land, in Österreich. Da hab ich mich in den Zug gesetzt, also nicht so wie heute, wie man sich das vorstellt, sondern ich bin dann also sonst wie jwd über die Dörfer, bin ich dann endlich doch in Ohlsdorf-Obernathal, wo er einen Bauernhof besitzt, bin ich also angekommen und es war kein Mensch da. Hab ich da geklopft: Nix. Und keine Klingel, gar nichts. Und dann habe ich die Nachbarn gefragt, ja da wohnt so ein etwas merkwürdiger Mann, der bleibt oft nachts weg, wissen Sie, so ungefähr. Hab ich einen Zettel drangemacht: Ich möchte Ihr Stück inszenieren, ich gehe ... Bin dann ins nächste Dorf gewandert, so vielleicht drei Kilometer entfernt nach Ohlsdorf und habe dann da den ganzen Abend gesessen in einer Wirtsstube, wo wirklich das ganze Personal der Bernhard-Welt saß. Ich hatte damals gerade "Frost" gelesen, der erste ganz große Roman, also ein richtiger Weltseller. Und da saßen dann diese ganzen Typen rum, die Holzknechte mit also drei Fingern und ohne Bein, also das war das ganze Personal. Ich habe mich dann so ein bisschen betrunken da und im Fernsehen lief "Drei Musketiere" und hab mir dann da ein Zimmer genommen. Und nachts um vier reißt plötzlich jemand die Tür von diesem kleinen Hotelzimmer auf, reißt mir die Bettdecke weg: Wer sind Sie? Was wollen Sie? Was machen Sie hier? – Das war der Thomas Bernhard! – Sie müssen sofort aufstehen und mit mir reden! Dann sind wir in die benachbarte Papierfabrik in Steyrermühl, das ist ganz in der Nähe seines Hauses, da sind wir dann in der Kantine gelandet, die hat die ganze Nacht auf, und da haben wir dann bis zum Morgengrauen uns irgendwie, soweit man das damals konnte, angefreundet. Wir haben über das Stück "Ein Fest für Boris" geredet und ich bin dann irgendwie in diese Bernhard-Welt eingedrungen. Man muss sich das ein bisschen so vorstellen, dass, nach einiger Zeit wird man unwillkürlich zu einem Mitspieler in dieser Welt. Also ich habe durch Thomas Bernhard zum Beispiel den einzigen mir bekannten Doppelmörder kennengelernt. Also er hat Figuren angezogen, Kranke, Verrückte, Spinner, Mörder, Theaterregisseure …, man hatte immer das Gefühl, wenn ich nicht aufpasse, bin ich irgendwann auch ein Teil dieser Welt. Also das war die Anfangsangst.
Scholl: Ich meine der öffentliche Thomas Bernhard war so der Hagestolz, der unerbittliche Kritiker, der auch auf Höflichkeiten pfiff, bei so mancher Preisverleihung verließen Politiker hochroten Kopfes den Saal ... Ich meine, wie haben Sie den privaten Thomas Bernhard über die Jahre auch erlebt? Also diese erste Begegnung war ja schon sehr ...
Peymann: ... war schroff ...
Scholl: ... war schroff, ja ...
Peymann: ... ich musste mich auch über Jahre ranarbeiten! Ich bin dann sehr, sehr oft ... Es waren ja immer wieder neue Stücke, hab ich ihn sehr oft besucht. Ich wohnte dann in sämtlichen Dorfgasthöfen Oberösterreichs rund um Gmunden und Ohlsdorf herum, kenne also jede noch so harte Bettlake in der Gegend, kam dann ganz langsam aber ins Haus. Erst hab ich vor dem Badezimmer auf dem Boden geschlafen und kam dann später – das Haus ist ja sehr geräumig, kann man übrigens besichtigen, da ist ein sehr interessantes, ein ganz wunderbares Bauernhaus, was er so ausgebaut hat, also ich kenne es noch im ganz frühen Stadium –, und hab dann so langsam, im Laufe der Jahre bin ich dann auch in die besseren Zimmer vorgedrungen, meist in zu kleinen Betten, weil er hatte so Empirebetten, wo ich, weil ich zu groß dafür war, musste ich immer mit angezogenem Knie schlafen. Es hat sich dann angenähert. Am Ende und auch zwischendurch konnte ich ihn kennenlernen als einen unerhört liebenswürdigen Menschen. Natürlich total konsequent. Wenn Sie zu spät kamen, wenn Sie um neun im Kaffeehaus verabredet waren und Sie waren um eine Minute nach neun nicht da, war er weg! Kommen Sie morgen wieder! Also das blieb bis zum Schluss so, also ein fast preußischer Österreicher. Und es war aber, und das ist glaube ich sehr wichtig das zu sagen, ein unerhört liebenswürdiger, fürsorglicher, fast väterlicher Mensch. Also er hat sich aufgeregt, wenn ich im Winter mit Jeans gereist bin, oder dass meine Freundin ein zu billiges Auto hat. Er sagte, wenn Sie damit fahren, sind Sie mit 30 schon tot! Also er war wirklich liebevoll, sehr witzig, ein Redemensch, ein Rede- und ein Zeitungsmensch. Also was uns verband, war vor allem das Zeitungslesen. Wir haben uns dann immer morgens im Kaffeehaus getroffen zum Kipferl, Nusskipferl, und haben uns gegenseitig aus den Zeitungen vorgelesen. Aber wie gesagt, ich hab ja auch mal mit ihm Ferien gemacht und dann, bis Wien hin war das dann doch eine Art Freundschaft, soweit man mit einem Genie befreundet sein kann, geworden.
Scholl: Wie war das in Wien dann? Also Sie haben Bernhard schon während Ihrer gesamten Karriere, also in Hamburg, in Bochum, in Stuttgart ...
Peymann: ... Salzburg, Hamburg, Bochum, ja ...
Scholl: ... haben Sie inszeniert, aber legendär wurden ja die Aufführungen im Wiener Burgtheater. 13 Jahre waren Sie selbst da, Herr Peymann, wurden da zu einer Berühmtheit, und zusammen mit Bernhard, dessen Stücke Sie an der Burg ja regelmäßig aufgeführt haben, für alle konservativen Österreicher so was wie eine Hassfigur. Also Peymann und Bernhard, die gehörten irgendwie zusammen, das sind Feinde Österreichs. Hat Sie das ja noch mehr mit ihm zusammengeschmiedet?
Peymann: Also das waren einige, und die meisten, die das sagten, das sind Nestbeschmutzer. ... Also ich so hier der großmaulige Deutsche, der alles besser weiß – und das stimmt ja auch, ich bin ja auch ein Großmaul und weiß ja auch alles besser, aber ich habe wirklich relativ viel Humor, das hat dann irgendwann doch die Herzen geöffnet –, aber er, er galt als auch bei den Burgschauspielern selber als der Nestbeschmutzer und er war für mich natürlich ich will mal sagen der Türöffner für die österreichische Seele. Also nur nicht umarmen lassen, sich nicht vereinnahmen lassen, misstrauisch bleiben, skeptisch. Und ich hab ein großes Aggressionspotenzial von ihm eingeimpft bekommen, eigentlich war er ein geheimer Mitdirektor, also manche wütende Protesterklärung, die ich da veröffentlicht habe, die hatte Thomas Bernhard geschrieben. Und ich meine, kulminieren tat das Ganze natürlich dann in der "Heldenplatz"-Aufführung, die wahrscheinlich zum größten Skandal in der Geschichte des Burgtheaters, in der Geschichte des österreichischen Theaters überhaupt wurde, nämlich ein Stück, das sich mit dem Neofaschismus oder mit dem ewigen Antisemitismus der Österreicher befasste. Und da gab es eben einige wirklich provokante Sätze, sechseinhalb Millionen Debile, die nach einem Führer suchen, damit war Österreich gemeint, und von Ferne tauchte der Haider schon auf. Also diese sogenannte Wahrheit, die ja keine sogenannte war, sondern eine wirkliche Wahrheit, nämlich dass die Österreicher immer geheuchelt haben, sie sind die ersten Opfer des Faschismus, sie sind das erste besetzte Land noch vor Polen – was ja nicht stimmt, sondern die Österreicher waren ja selber aktive Mittäter und in der ersten Reihe vom Hitler und den Nazis –, diese Lüge, die das österreichische Gemüt über Jahrzehnte gepflegt hat, die war nach der "Heldenplatz"-Premiere nicht mehr zu tragen, nicht mehr möglich. Also das heißt, diese Aufführung hat über Nacht plötzlich das Österreich wirklich für eine Schrecksekunde verändert, bis heute. Das war natürlich toll!
Scholl: Thomas Bernhard, heute wäre er 80 Jahre alt geworden. Wir sind im Gespräch mit dem Regisseur Claus Peymann. Diese Packung mit dem "Heldenplatz", die haben Sie Wien wirklich auch im 100. Jubiläumsjahr des Burgtheaters auch noch serviert. Konnten Sie eigentlich hinterher noch ungefährdet mit Thomas Bernhard in den Bräunerhof, seinem bevorzugten Café, gehen, ohne angepöbelt zu werden?
Peymann: Also ich war nie so ein großer Cafégänger, heute ist ja auch der Bräunerhof eine von den Kultstätten, wo die Bernhard-Anbeter aus der ganzen Welt sich versammeln und natürlich auch in dem Hof da in Ohlsdorf. Ich bin nie ein großer Kaffeehausgänger gewesen, insofern bin ich ganz unwienerisch gewesen. Für die Wiener sind ja die Caféhäuser im Grunde die Wohnzimmer. Aber es war in der "Heldenplatz"-Phase so: Also er ist verprügelt worden auf der Straße, ich bin vorm Theater niedergeschlagen worden von aufgebrachten Leuten, man hat bei der "Heldenplatz"-Premiere riesige Misthaufen ausgekippt, so richtig so Lastwagen voll Mist, und wir sind beide mal zusammen auch angespuckt worden, was äußerst unangenehm war. Aber bei allen Feinden und bei dieser Majorität der Konservativen, der Reaktion dieser Lemuren eines früheren Österreich, gab es natürlich auch genau so viele, fast genau so viele Freunde.
Scholl: Wann und wie war Ihre letzte Begegnung mit ihm?
Peymann: Die letzte Begegnung war telefonisch. Er hat mich an einem Morgen zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit angerufen, wir haben sehr früh immer telefoniert, zwischen acht und neun, aber er hat mich um, weiß nicht, um sechs angerufen, zu nachtschlafender Zeit, und hat mich in ein längeres Telefonat verwickelt, bei dem es um nichts ging. Er hat dann Witze gerissen, ob ich nackt bin, und ich sag, ja ich bin total verschlafen und ... Er hat ganz lange geredet, bestimmt Dreiviertelstunde, über nichts, was er sonst nie ... , das waren sonst immer sehr zielgerichtete, zweckmäßige, nüchterne, sachliche Gespräche. Ich hab dann noch zu meiner Freundin gesagt, Mensch, seltsam, jetzt langweile ich mich sogar schon bei den Gesprächen mit dem Bernhard! Später hat sich herausgestellt, dass das ein Abschiedsgespräch war, eine Reihe von seinen, von den engeren Freunden haben ähnliche Gespräche geführt. Und dann ist er wohl gestorben und es lief das Gerücht, wir wurden immer wieder von den Zeitungen berannt, ob wir bestätigen könnten, dass Bernhard tot ist. Sag ich nein, ich hab ja noch gerade mit ihm telefoniert, er, es geht ihm nicht gut, aber ... Dann hab ich den Bruder angerufen, nein, nein, das ist alles in Ordnung, es geht ihm nicht so gut. Dann hab ich gesagt, wissen Sie was, Dr. Fabian – so heißt der Bruder –, ich komme ganz schnell nach Ohlsdorf und streite mich mit ihm! Weil er hat sich immer mit seiner Lebensgefreundin, einer sehr alten Dame, die war schon sehr klapprig manchmal, und da hat er mit ihr unheimlich rumgestritten ganz aggressiv, und dann wurde die wieder total, wurde die reanimiert. Ich hab dem Fabian, wenn ich komme und streite mich mit ihm, dann kommt er wieder ... Ja, sagt er, das ist eine gute Idee, kommen Sie doch am Samstag! Da war er schon tot, wie sich erst herausstellte. Und dann habe ich immer wieder nachgeforscht und irgendwann hab ich, am Mittwochmorgen hieß es dann, hat mich der Fabian angerufen und hat gesagt, wenn irgendwas mit dem Bernhard ist, keine Burgtheaterfahne auf Halbmast, keine Erklärung, nichts! Ich sage, was ist denn passiert? – Nein, nein, gar nichts, ich muss jetzt weg! Da wurde ich misstrauisch und dann haben wir recherchiert, dass tatsächlich eine Beerdigung geplant war um zehn, dann bin ich sofort ins Auto und bin dahingefahren, da war er schon um neun unter der Erde. Und ich war um kurz vor zehn da und es war nur der Bruder, die Halbschwester und eine Zufallspassantin dabei, hat sich also insgeheim verscharren lassen. Wir spielten am gleichen Abend "Heldenplatz", in dem es auch um einen Mann geht, der gerade an dem Tag sich hat verscharren lassen ohne irgendeinen Anhang. Ich kann Ihnen sagen, das sind dann so Theateraufführungen, die man sein Leben lang nicht vergisst, weil natürlich alle die Schauspieler, die "Heldenplatz" spielten, liebten Bernhard und waren mit ihm verbunden, auch durch diese Schlacht um "Heldenplatz". Und an dem Tag das dann zu spielen, das sind diese unvergesslichen Einmaligkeiten überhaupt im Leben.
Scholl: Thomas Bernhard in memoriam. Claus Peymann hat an den Dichter erinnert, ich danke Ihnen!