Afghanistan

Wie die Taliban von der Ignoranz des Westens profitieren

Ein Mann mit Bart - es ist ein Taliban - zerstört mit einem Stock Mohnpflanzen.
Weizen statt Opium: Die Taliban in Afghanistan gehen - medienwirksam - gegen den Anbau von Mohn vor. © IMAGO / ABACAPRESS / IMAGO / Zerah Oriane / ABACA
Von Jasamin Ulfat-Seddiqzai |
Vor zwei Jahren zogen die Taliban in Kabul ein. Der westliche Militäreinsatz war zuvor im Desaster geendet, Hilfsgelder flossen in dunkle Kanäle. Schuld daran war auch der westliche Blick auf das Land, meint Jasamin Ulfat-Seddiqzai.
Über die Verbrechen der Taliban weiß die ganze Welt Bescheid, sie interessieren uns nur nicht mehr. Afghanistan ist aus den Schlagzeilen verschwunden, weil es in den Abendnachrichten genügend andere Schreckensmeldungen gibt, die uns erschaudern lassen.
Außerdem – so beruhigen wir uns selbst – wollten die Afghanen es ja vielleicht auch nicht anders. Vielleicht sind sie eben doch nur ein rückständiges Volk, das in Wirklichkeit froh über frauenfeindliche Politik ist.
Wie zum Beweis dieser These findet man seit der Machtübernahme der Taliban vor zwei Jahren keine nennenswerte Gegenbewegung im Land, keine Aufständischen, die den Taliban glaubhaft die Macht streitig machen. Warum wehrt sich dieses Volk, das als kriegerisch und aufmüpfig bekannt ist, nicht gegen diese neue Unterdrückung? Sind die Gängelungen der Taliban, die Unterdrückung der Frauen das, was Afghanen die ganze Zeit wirklich wollten?

Fahrradwege und Weizenanbau

Tatsächlich hat das Fehlen eines nennenswerten Widerstands gegen die Taliban nichts mit deren frauenfeindlicher Politik zu tun. Wer sich mit dem Land beschäftigt weiß, dass die Taliban in Afghanistan derzeit vor allen Dingen eins betreiben: Mikromanagement.
So bessern sie Schlaglöcher aus, sammeln Müll von den Straßen, reinigen Abwasserkanäle, bauen Fahrradwege, bessern Brücken aus, kontrollieren die Überteuerung von Lebensmitteln, sperren Taschendiebe ein, beschlagnahmen abgelaufene Lebensmittel aus Supermarktregalen, sorgen für die korrekte Eichung von Lebensmittelwaagen in Geschäften, überprüfen die Reinheit von Benzin an Tankstellen, geben von Politikern beschlagnahmte Grundstücke an die rechtmäßigen, oft prekär lebenden Besitzer zurück, fördern schadstoffarme Heizmöglichkeiten, um die städtische Luftqualität zu verbessern, zwingen Opiumbauern zum Anbau von Weizen, und haben innerhalb der letzten zwei Jahre die afghanische Opiumproduktion stark zurückgefahren.
Kurz: Sie finden Lösungen für praktische Probleme, die den Alltag vieler Menschen belastet haben. Sind sie also doch das, was Afghanistan die ganze Zeit brauchte?
Auch diese Erklärung wäre viel zu einfach. Die Wahrheit ist, dass sich die Taliban derzeit einiger Probleme annehmen, die von vielen westlichen Akteuren größtenteils ignoriert, teilweise sogar schlimmer gemacht wurden.

Menschen mit gewöhnlichen Problemen

So flossen in den vergangenen 20 Jahren internationale Gelder, die für den Aufbau des Landes gedacht waren, nicht in die Infrastruktur, sondern in die Taschen kleiner afghanischer Eliten mit Privatarmeen, die die einfache afghanische Bevölkerung ausbeuteten.
Dadurch wurde der Westen als Unterstützer von Korruption, Unterdrückung und Vetternwirtschaft wahrgenommen, nicht als Freund der einfachen Leute. Die Probleme, die die Taliban jetzt lösen und deren Lösung ihnen noch eine gewisse Legitimität verschafft, sind Dinge, die man in den letzten 20 Jahren hätte angehen können und müssen.
In unserer Vorstellung sind Afghanen aber keine gewöhnlichen Menschen mit sehr alltäglichen Problemen, sondern sehr fremde Menschen mit einer sehr fremden Kultur, denen Ehre, Religion und Stammeszugehörigkeit wichtiger sind als ihre eigenen Frauen und Kinder. In dieser Logik ist es dann nur zu verständlich, dass wir aus dem rationalen Westen das Rätsel Afghanistan nie lösen konnten.

Ein nicht gerechtfertigter Einsatz

War es am Ende also gar nicht westliche Unfähigkeit, sondern das komplizierte und exotische Afghanistan, das eine Lösung unmöglich machte? Eine sehr bequeme Haltung.
Exotismus macht es einfacher, das Leiden der afghanischen Bevölkerung zu verdrängen. Denn wenn wir uns eingestehen, dass auch afghanische Menschen nur ihre Familien ernähren wollen, außerdem eine funktionierende Kanalisation und Krankenhäuser brauchen, würden wir merken, dass der Afghanistaneinsatz am Ende nicht gerechtfertigt war.
Was das Land brauchte, war bedarfsorientierte Entwicklungshilfe. Was es bekam, war Krieg. Am Ende war es also auch unser orientalistischer Blick, der den Taliban das Land schließlich auf dem Silbertablett servierte.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen zu britischer Literatur im 19. Jahrhundert. Ihre Schwerpunkte sind Orientalismus, Stereotypenbildung und Männlichkeitsbilder, insbesondere im Kontext der anglo-afghanischen Kriege, über die sie derzeit ihre Dissertation schreibt. Ihre journalistischen Texte behandeln Xenophobie, Frauen im Islam und erschienen in der „taz“ und der „Rheinischen Post“.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai posiert für ein Pressebild.
© privat
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