Meinung

Der "Aktivist" - Die seltsame Karriere eines Wortes

04:44 Minuten
Hinterlassener Handabdruck einer mit Sekundenkleber festgeklebten Hand von einem Klimademonstranten der Letzten Generation auf dem Asphalt einer Strasse in Berlin Mitte Deutschland.
Bleibender Abdruck: Mit ganzem Körpereinsatz haben die Aktivistinnen der Letzten Generation für eine andere Klimapolitik demonstriert. © IMAGO / IPON / IMAGO
Ein Einwurf von Kerstin Hensel · 08.07.2024
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Engagierte, Fürsprecher, Kämpfer – es gibt viele Bezeichnungen für Menschen, die sich für politische oder gesellschaftliche Ziele einsetzen. Mittlerweile ist aber inflationär von "Aktivisten" die Rede. Dabei ist der Begriff vorbelastet.
Sprache ist kein starres Gebilde. Begriffe tauchen auf, können nach einer Weile aus dem Sprachgebrauch wieder verschwinden oder ihre Bedeutung verändern. Mitunter jedoch liegt die Ursache einer Begriffsmetamorphose in verbaler Schlamperei bzw. gedanklicher Verwurstung.
Beispielsweise die Bezeichnung Aktivist, die heutzutage jeder als Markenzeichen trägt, der vorgibt, seine Ziele unter dem Banner „Taten statt Worte“ zu verfolgen. Allein das Ziel wirksamer Tätigkeit scheint eine Berechtigung für das Modelabel zu sein.
Wer in den sozialen Medien über eine lose Zunge, moralischen Rigorismus oder eine angesagte Gesinnung verfügt oder wer sich auf irgendeinem Gebiet besonders engagiert zeigt, wird schnell mit diesem tatverdächtigen Titel veredelt.
Von den historischen Abgründen des Begriffes will heute kaum einer mehr Notiz nehmen. Bis in die 1920er-Jahre gab es eine vom Schriftsteller Kurt Hiller ins Leben gerufene Aktivismus-Bewegung, die eine „Aktivierung des Geistigen zur Herbeiführung einer neuen Menschheitsära“ anstrebte.

Hitler wurde von Vasallen Aktivist genannt

Wenig später verkündete der Bierkelleragitator Adolf Hitler mit Schaum vor dem Mund ebenfalls eine neue Ära, allerdings eine, die das Gegenteil meinte. Hitler wurde von seinen Vasallen Aktivist genannt. Der von ihm kreierte Aktivismus war Zentralpunkt der stupid-militärischen Hitler-Bewegung. Darin galt nicht intellektuelle Disziplin, sondern Draufgängertum, Fanatismus und dumpfe Männlichkeit.
Nach dem Ende der nazistischen Ära formten die Alliierten im Rahmen der Entnazifizierung aus dem Wort Aktivist einen Rechtsbegriff für sogenannte Belastete, die dem NS-Regime nahestanden und sich als ideologische Agitatoren betätigt hatten.

Jemand, der die Normen übererfüllt

In der sowjetischen Besatzungszone lebte der Begriff weiter – abermals in gewandelter Form. 1948 tat sich der Bergmann Adolf Hennecke unter Tage dadurch hervor, dass er sämtliche Normen übererfüllte. Von den Arbeitern wurde er als Normbrecher beschimpft, doch die „Aktivistenbewegung“ war geboren.
Es hieß: „Ein Aktivist ist ein Werktätiger, der bei der Erfüllung des Planes außerordentliche Leistungen im sozialistischen Wettbewerb hervorbringt.“ Es gab einen „Tag der Aktivisten“, an dem der staatliche Titel Aktivist verliehen wurden, und ein politisch strammer Poet reimte behände: „Ich bin Traktoristin der MAS / und werd Aktivistin bald sein / Dann ladet wohl zum Traktoristenkongress / der kluge Minister mich ein.“
Die normale Bevölkerung hingegen nahm Aktivisten weniger als tatkräftige Helden, denn als parteiergebene Streber wahr und sah entsprechend auf sie herab.

Aktivisten heute: Bei NGOs unter Vertrag

Mit der Maueröffnung wurde der sozialistischen Aktivistenbewegung der Strom abgedreht. Der Begriff Aktivist blieb eine Weile vergessen, bis er im Zuge aktuellpolitischer „Bewegungen“ wieder zum Licht drängte, freilich so inflationär, dass heute fast kein Lebensbereich davon ausgespart bleibt.
Aktivist ist jeder, der seine Aktivität vor sich stellt. Es gibt links- und rechtsradikale, woke, queere, reaktionäre und religiöse Aktivisten; es gibt agitatorische Künstler, die sich als solche bezeichnen; Klimaprotestanten, Kinder-, Food-, Mode-, Inklusionsaktivisten und viele mehr. 
Indes ist Aktivist sogar als Beruf anerkannt. NGOs ermöglichen leidenschaftlichen Freigeistern eine Ausbildung, in der sie lernen, wie sie – trotz allen Eifers – norm- und formgerecht handeln und nehmen sie schließlich unter Vertrag. So müssen sich die Aktivisten nicht um einen schnöden Brotverdienst scheren, sondern können sich voll und ganz ihren Aufgaben widmen.

Kerstin Hensel, Jahrgang 1961, ist Professorin für Poetik an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Sie hat zahlreiche Gedichte, Romane und Essays geschrieben. Zuletzt erschien von ihr der Roman "Die Glückshaut" (Quintus-Verlag 2024).

Die deutsche Schriftstellerin Kerstin Hensel auf der Leipziger Buchmesse.
© dpa / picture-alliance / Jens Kalaene
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