Kommentar

Angst im Mutterland der Verschwörungstheorien

Trauermarsch für den ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow in Moskau
Trauermarsch für den ermordeten Oppositionellen Boris Nemzow in Moskau © dpa / picture alliance / Sergei Ilnitsky
Von Thomas Franke |
In Russland regiert der KGB. Ein Ziel des Geheimdienstes sei, die Menschen zu verängstigen, meint Thomas Franke. So würde seit Jahren die von Westen ausgehende Gefahr beschworen - ganz im Sinne des Systems Putin.
Russland ist das Mutterland der Verschwörungstheorien, nur entdecken selbst extrem nüchtern analysierende Menschen immer wieder Belege dafür, dass Verschwörungen in Russland Realpolitik werden.
In Russland regiert der KGB
Denn in Russland regiert der KGB in Gestalt von Wladimir Putin. Und ein Ziel des Geheimdienstes ist, dass die Menschen Angst haben. Deshalb beschwören Medien seit Jahren die Gefahr, die angeblich vom Westen ausgeht, von der Demokratie, von der eigenen Opposition, eigentlich von allen, die nicht auf der Linie Putins sind. Denn Putin, so der Kurzschluss, ist Russland. Alle anderen sind gefährlich.
Gehen wir mal, verschwörungstheoretisch, davon aus, dass Boris Nemzow nicht durch Zufall umgebracht wurde. Da kursieren die absurdesten Annahmen. Eine hat Putin selbst angedeutet: Schon vor Jahren sprach er von einem "sakralen Opfer", zu dem Kremlkritiker bereit seien. Kurz nach dem Mord dann ließ er über seinen Sprecher erklären, es könne sich beim Mord Nemzows nur um eine politische Provokation handeln. Das meint das gleiche: Nemzow quasi der selbst geschaffene Märtyrer. Klingt ja auch logisch: Die Köpfe der Opposition sitzen in Moskau zusammen und beraten, wer von ihnen sich opfert.
Auch die gegenteilige Theorie kursiert: Nemzow sei von Geheimdienst-Mitarbeitern umgebracht worden, um Putin zu schaden. Der Mord nütze der Opposition und schade dem Image Putins. Nebenbei, wenn es um Machtfragen geht, ist Putin sein Image egal. Da gab es in den letzten Jahren schlimmeres für den Präsidenten.
Immer wieder kommt es zu Übergriffen
Sinn und Zweck dieser Theorien ist es, Verwirrung zu stiften. Den Menschen zu vermitteln, dass es keine Wahrheit gibt und nicht geben wird, dass nichts aufgeklärt wird und auch niemand damit rechnen muss. Und Angst. Die sitzt tief. Am Rande der Trauerfeier für Nemzow wurde der Regimekritikerin Ksenia Sobtschak zugeraunt, sie sei die nächste. Immer wieder kommt es zu Übergriffen auf Menschen, die sich nicht konform verhalten, auf Homosexuelle zum Beispiel. Theateraufführungen, Ausstellungen, Zusammenkünfte Andersdenkender werden von fundamentalistischen Radikalen gestürmt, niedergebrüllt.
Der Mord an Boris Nemzow ist nicht nur ein klares Signal an die Opposition außerhalb der Institutionen, auch Andersdenkende im System sind der Adressat. Nemzow war ein aufstrebender Politiker, sein Ziel: die Staatsduma, das Parlament. Seine Chancen standen gut. Und noch etwas ist äußerst wichtig: Der Mord liefert einen Vorwand, um bürgerliche Freiheiten weiter einzuschränken.
Natürlich gelten für den FSB, besser bekannt unter seinem früheren Namen KGB, und auch für Präsident Putin und sein Umfeld die Unschuldsvermutung. Und doch passt der Tod von Boris Nemzow in eine Reihe von Morden der letzten Jahre:
Irritiert oder verängstigt
Bekannt der Fall von Anna Politkowskaja, der Journalistin, die vor ihrer Wohnung erschossen wurde. Alexander Litwinjenko, Ex-Geheimdienstagent und Verräter, wurde in England mit Plutonium vergiftet. Zuletzt sorgte der Mord an Sergej Magnitzki für Aufsehen. Der Wirtschaftsanwalt wollte den vielleicht größten Steuerbetrug Russlands aufklären. Er sah das als seine patriotische Pflicht. Er wurde im Gefängnis zu Tode gefoltert, ist dort - man kann es nicht anders sagen - verreckt. Alles folgenlos. Und wer weiß, wie viele Morde an weniger Prominenten überhaupt nicht bekannt werden.
Eine Verschwörungstheorie? Nun, es dient dem Machterhalt des Präsidenten und Geheimdienstes, wenn die Menschen sich frustriert, irritiert oder verängstigt von der Politik abwenden. Wenn alle, die nicht mit der Gesellschaft konform gehen, Angst haben.
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