Kommentar

Das Bildungssystem ist Inbegriff organisierter Verantwortungslosigkeit

04:21 Minuten
Unter einer Tafel an einer allgemeinbildenden Schule sind Tafelschwämme und Kreide zu sehen.
Der so wichtige Lehrerberuf kenne in Deutschland keine Anreize, keine Belohnungen und keine Sanktionen, meint Inge Kloepfer. © IMAGO / Fotostand / IMAGO / Fotostand / Freitag
Ein Kommentar von Inge Kloepfer · 07.06.2024
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Statt nach dem PISA-Schock nachzuforschen, was bildungspolitisch erfolgreiche Länder besser machen, ist in Deutschland mal wieder nichts passiert. Warum? Weil das deutsche Bildungssytem systemisch krank ist.
Es ist ziemlich genau ein Jahr her, da versetzte eine bildungspolitische Nachricht Politik und Medien für kurze Zeit in Aufruhr. Bis zu einem Viertel der Viertklässlerinnen und Viertklässler könnte nicht richtig lesen. Das heißt: Sie „erlesen“ die Texte, verstehen sie aber nicht.
Diesen Zustand hätte man seinerzeit eigentlich als Bildungskatastrophe bezeichnen müssen, zumal sich das Defizit Jahr für Jahr weiter wälzt. Den Beweis dafür, dass es schon lange besteht, bekam Deutschland dann im Dezember mit verheerenden Pisa-Ergebnissen für die 15-Jährigen.
Doch war die Aufregung über diese bildungspolitische Bestandsaufnahme binnen weniger Tage verflogen. Die Politik kehrte zurück zum „Business as usual“.

Kein Aufbruch, keine gemeinsame Kraftanstrengung

Haben wir, haben Sie seitdem irgendetwas gehört? Kaum. Hier und da wurden ein paar Unterrichtsanpassungen diskutiert. So etwas wie ein „Leseband“ von 20 Minuten täglich oder eine Stunde mehr Deutschunterricht in der Woche. Mehr aber auch nicht.
Ein Aufbruch, eine gemeinschaftliche Kraftanstrengung – Fehlanzeige. Davon, dass Bildungspolitiker*innen oder die Bildungsforschung auf die Idee gekommen wären, zum Beispiel nach England zu reisen, um sich anzuschauen, was dort so erstaunlich viel besser funktioniert, war nichts zu vernehmen.  
Da hätten sie studieren können, was bildungspolitisch erfolgreiche Länder anders machen: Sie setzen landesweit verbindliche und anspruchsvolle Bildungsstandards, steuern ihr System datenbasiert und wissen zu jeder Zeit, wo Standards nicht erreicht werden, fördern Schüler frühzeitig, warten nicht, bis es zu spät ist.
Und: Sie fangen viel früher an – schon in den Kindergärten, die auch als Orte des kognitiven Lernens und damit als Bildungsorte begriffen werden.  

Das deutsche Bildungssystem ist systemisch krank

Was, bitte, ist so kompliziert daran, es nachzubauen? Eigentlich nichts, wäre das deutsche Bildungssystem nicht systemisch krank. Es ist der Inbegriff organisierter Verantwortungslosigkeit. Niemand muss für das Scheitern der Bildungspolitik Konsequenzen ziehen, schon gar nicht die Landesbildungsministerinnen und -minister. Kein Rücktritt, keine Entschuldigung, nichts.
Auch die Lehrerinnen und Lehrer haben nichts zu befürchten. Dieser so wichtige Beruf kennt keine Anreize, keine Belohnungen und keine Sanktionen.
Doch die Unklarheiten gehen viel weiter, ziehen sich durch das gesamte System. So sind die Kommunen etwa für die Sachmittel und Gebäude zuständig, die Länder für die Finanzierung der Lehrkräfte, die Bildungsministerien für die Schulen, die Sozialministerien vielfach für die Kindertagesstätten. Zusammenarbeit, Absprache, Koordination - kaum.
Mehr noch: Die Gelder, die der Bund über die Jahre bereitgestellt hat, werden von manchen Bundesländern mitunter skrupellos zweckentfremdet, zulasten der Kinder. So wie in Thüringen, wo ein großer Teil des Geldes aus dem „Aufholen nach Corona"-Programm des Bundes nie bei den Schülern ankam.

Inge Kloepfer ist Wirtschaftsjournalistin, Sachbuch- und Filmautorin. Sie schreibt regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Zuletzt erschienen ihr Roman Die Zweifel des Homer Spiegelman und die Musiker-Biografie Kit Armstrong - Metamorphosen eines Wunderkinds. 

Die Journalistin, Autorin und Ökonomin Inge Kloepfer
© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
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