Kommentar
Die von CDU-Chef Friedrich Merz versprochenen Steuererleichterungen nützen vor allem Wohlhabenden. © picture alliance / dpa / Axel Heimken
Was im Wahlkampf unterschlagen wurde
04:54 Minuten

Im Bundestagswahlkampf spielte soziale Gerechtigkeit kaum eine Rolle. Steuern sollen vor allem für Unternehmen gesenkt werden, ohne Gegenfinanzierung. Druck soll nur auf die Ärmsten ausgeübt werden. Dabei ist eine sozialpolitische Zeitenwende nötig.
Wer gehofft hatte, der kurze Wahlkampf würde zu einer Konzentration auf die Kernfragen der Gesellschaftsentwicklung führen, sah sich getäuscht: Statt kurz und knackig war dieser Wahlkampf schmalspurig und schmutzig. Schmalspurig bezüglich der Inhalte und schmutzig, weil er sich zu einem großen Teil gegen sozial benachteiligte Minderheiten richtete. Hingegen wurde das Kardinalproblem unseres Landes, die wachsende soziale Ungleichheit, von den etablierten Parteien weitgehend ignoriert.
Dabei resultieren aus dieser ökonomische Krisen, ökologische Katastrophen sowie – im globalen Maßstab – Kriege und Bürgerkriege. Die zunehmend in die Mitte der Gesellschaft vordringende Armut spielte nur eine Nebenrolle, der sich immer stärker bei vermögenden (Unternehmer-)Familien konzentrierende Reichtum gar keine.
Notwendigkeit höherer Steuern
Alle etablierten Parteien haben teure Wahlversprechen gemacht, um möglichst viele Stimmberechtigte für sich einzunehmen. Dabei standen „Steuererleichterungen“ im Vordergrund, die man besser als Steuerausfälle für den Staat bezeichnet hätte. Darüber, wie die Löcher in den öffentlichen Kassen gestopft werden könnten, wurde kaum gesprochen.
Gerade diejenigen Politiker, deren Parteien den Rüstungsetat am liebsten vervielfachen würden, waren ausgesprochen wortkarg im Hinblick auf Sparvorschläge. Außer finanziell wenig ergiebigen Leistungskürzungen bei Asyl- und Arbeitsuchenden fiel ihnen nichts ein.
Wer mit offenen Augen durchs Land fährt und von maroden Schulen über fehlende Pflegekräfte und Wohnungen bis zu einstürzenden Brücken einen riesigen Investitionsbedarf feststellt, würde ohnehin eher die Notwendigkeit höherer Steuern konstatieren.
Finanzstärkste unter Druck setzen
Während die verharmlosend „Klimawandel“ genannte Erderwärmung im Wahlkampf unterbelichtet blieb, machte sich ein sozialer Klimawandel umso stärker bemerkbar: Politiker der etablierten Parteien suggerierten, dass es den Armen, vor allem Menschen im Bürgergeldbezug und auf der Flucht, zu gut gehe, weshalb ihnen die Leistungen gekürzt werden müssten; gleichzeitig unterstellten sie, dass es den Reichen immer schlechter gehe, weshalb die Unternehmer stärker mit Subventionen oder Steuervergünstigungen unterstützt werden müssten. Zwischen den etablierten Parteien war kaum mehr strittig, ob dies geschehen soll, sondern nur noch, wie es am besten zu bewerkstelligen ist.
Daher kann es nach Bildung der neuen Regierung zu einer sozialpolitischen Zeitenwende in dem Sinne kommen, dass durch die Kürzung von Transferleistungen sowie die Verschärfung von Anspruchsvoraussetzungen und Sanktionen noch mehr Druck nach unten gemacht wird. Dabei wäre das Gegenteil nötig: Durch mehr Druck nach oben müssten die Finanzstärksten gezwungen werden, mehr Verantwortung für den Erhalt und die Entwicklung eines sozialen, demokratischen und nachhaltigen Gemeinwesens zu übernehmen.
Niedergang unseres Gemeinwesens
Die mehrfach vergewaltigte Französin Gisèle Pelicot wurde für ihren Satz „Die Scham muss die Seite wechseln“ gelobt. Auch im Hinblick auf das wachsende Tafelelend in unserem wohlhabenden Land müsste es heißen: „Die Scham muss die Seite wechseln.“ Sehr viele Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen haben, nehmen ihn nicht wahr, weil sie sich schämen und dem Staat nicht „auf der Tasche liegen“ wollen.
Viel eher schämen müssten sich aber die rund 250 Milliardäre und Multimilliardäre in Deutschland, zahlen sie doch im Unterschied zu vielen Normalverdienenden einen verschwindend geringen Teil ihres Einkommens und vor allem ihres Riesenvermögens an Steuern. Die fünf reichsten Familien unseres Landes besitzen ein Privatvermögen von zusammen 250 Milliarden Euro, das ist genauso viel wie das der ärmeren Hälfte der Bevölkerung, also von mehr als 40 Millionen Menschen.
Wenngleich das Thema Flucht und Migration den Wahlkampf dominierte, bleibt es die politische Hauptaufgabe, den Niedergang unseres Gemeinwesens durch Schließung der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich zu stoppen.
Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher „Deutschland im Krisenmodus“ sowie „Umverteilung des Reichtums“ veröffentlicht.