Kommentar zu ChatGPT

Der Sieg der Laien über das Expertentum

Auf einem Smartphone ist das Logo von ChatGPT zu sehen.
Je mehr sich die Perspektive der Laien in den digitalen Medien niederschlägt, umso mehr bestimmt sie ChatGPTs Antworten. © picture alliance / Panama Pictures / Dwi Anoraganingrum
Überlegungen von Roberto Simanowski |
Das Internet hat das Wissen demokratisiert: Alle können sich öffentlich zu allem äußern. Expertinnen und Experten finden nun schwerer Aufmerksamkeit. Chatbots werden diese Entwicklung verstärken, prognostiziert der Medienphilosoph Roberto Simanowski.
Ich bat ChatGPT neulich um einen Schreibgefallen, mit folgender Frage: „Was spricht für und was spricht gegen den Spruch ‚Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln‘ des preußischen Generals und Militärtheoretikers Carl von Clausewitz?“
Nach zehn Sekunden hatte ich die Antwort, drei Argumente für, fünf gegen Clausewitz. Der Krieg sei keine Fortsetzung der Politik, sondern ihr Versagen, stand da unter anderem, denn zum Krieg komme es dann, wenn Diplomatie und andere friedliche Mittel der Konfliktlösung versagt haben. Das leuchtete mir ein.
Ich bin kein Politikwissenschaftler und schon gar nicht ein Militärexperte, aber seit ChatGPT kann ich in diesem Diskursfeld durchaus mitreden, zumindest solange ich mittels ChatGPT reden kann, also alles schriftlich geschieht.

Jeder kann dank ChatGPT mitreden

ChatGPT ist der Tod der Experten 2.0., denn schon das Internet und speziell die sozialen Medien überwanden die Gatekeeper, die bisher darüber wachten, wer Zugang zur Öffentlichkeit hat. Eine neue Ära brach an, eine Ära der hierarchiefreien Kommunikation. Partizipationskultur statt Expertokratie!
Plötzlich gab es überall Experten oder jedenfalls Leute, die sich dafür hielten. Leute, die noch nie etwas vom sokratischen Proportionalitätsparadox der Erkenntnis gehört hatten, „Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nicht weiß“, und gerade deswegen fröhlich dessen Umdrehung betrieben: Je weniger ich weiß, umso überzeugter bin ich, Bescheid zu wissen.

Die künstliche Intelligenz – der Tod der Experten

Der Tod der Experten 1.0 ereignete sich aufmerksamkeitsökonomisch. Die Experten waren einfach nicht mehr zu hören zwischen all den meinungsstarken Äußerungen all der anderen, sei es zur Pandemiebekämpfung, sei es zum Ukraine-Krieg, diesem jüngsten Beispiel für die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – oder eben ihres Versagens. Mit ChatGPT sind die Experten auch auf der inhaltlichen Ebene erledigt. Wir, die Laien, überschreien sie nicht nur, wir haben sogar die richtigen Argumente parat. Drei für, fünf gegen Clausewitz.
Aber ChatGPT demokratisiert das Wissen noch auf eine viel tiefere Weise. Es hebt nicht nur die Laien auf die Wissensebene der Experten. Es senkt auch das Expertenwissen auf die Ebene der Laien, sofern nun ChatGPT als Experte durchgeht.
Denn ChatGPT operiert nach dem Wahrscheinlichkeitsprinzip: Es wählt immer die Worte, die in den Trainingsdaten am häufigsten zu einem bestimmten Thema gemeinsam auftreten. Hier liegt die Chance der Laien, die den Experten zahlenmäßig ja in jeder Hinsicht überlegen sind. Je mehr sich die Perspektive der Laien in den digitalen Medien niederschlägt und somit in die Trainingsdaten der KI eingeht, umso mehr bestimmt sie ChatGPTs Antworten.

Laien gewinnen durch KI an Einfluss

Genau dies geschieht, seit Alltagskommunikation nicht mehr als gesprochenes Wort im Winde verweht oder im Bierdunst am Stammtisch, sondern als Schrift in Blogs und Chats und Tweets erscheint und von dort in den Datensatz der KI eingeht. Da können die Experten noch so viele Fachartikel schreiben: Wenn Quantität zum Qualitätskriterium wird, sind sie es, die am Gatekeeper scheitern.
Kein Wunder also, dass ChatGPT so oft so vage und allgemein bleibt und nie die Experten zitiert. Wie viel menschliche Intelligenz auch immer man der künstlichen Intelligenz zubilligt, dies scheint unbestreitbar: Sie ist eine Bewegung hin zum Common Sense in statistischer Hinsicht – die Fortsetzung des Denkens mit anderen Mitteln.

Roberto Simanowski ist Kultur- und Medienwissenschaftler und lebt nach Professuren an der Brown University in Providence, der Universität Basel und der City University of Hong Kong als Medienberater und Buchautor in Berlin und Rio de Janeiro. Zu seinen Veröffentlichungen zum Digitalisierungsprozess gehören „Facebook-Gesellschaft“ (Matthes & Seitz 2016) und „The Death Algorithm and Other Digital Dilemmas“ (MIT Press 2018).

Roberto Simanowski
© privat
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