Kommentar
Trotzig: Das Wahlvolk besteht darauf, der Souverän zu sein. Einige Politiker hätten das Volk aber gern anders. © picture alliance / dpa / Frank Hammerschmidt
Demokratie in der Krise: Die neue Volksverdrossenheit
04:52 Minuten
Brecht spottete einst, die DDR-Regierung solle sich doch ein neues Volk wählen. Das Bonmot ist aktuell: Denn auch im demokratischen Deutschland von heute tun sich Politiker gelegentlich schwer damit, das Volk und seinen Willen zu akzeptieren.
Was hat Abraham Lincoln mit der Einführung des Leinenzwangs für Hunde zu tun? Etwas Geduld, bitte! Zunächst verdanken wir dem amerikanischen Präsidenten eine berühmte Formel, nach der die Demokratie eine „Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk“ sei. Doch so häufig diese feierliche Phrase auch zitiert wird: In der repräsentativen Demokratie besteht sie kaum den Faktencheck. Kann heute wirklich davon die Rede sein, dass sich das Volk selbst regiert? Haben nicht immer mehr Menschen auf nahezu beängstigende Weise das Gefühl, die politischen Eliten regierten gerade nicht „für“, sondern direkt gegen das Volk?
"Besser erklären" und "besser zuhören"
Dieses Unbehagen ist nur die eine Seite der aktuellen Krise. Nicht bloß das Wahlvolk, auch dessen Repräsentantinnen und Repräsentanten wirken unzufrieden – und zwar mit diesem Wahlvolk. Die Regierten wollen offenbar nicht einsehen, wie gut es die Politik mit ihnen meint. Man müsse die eigene Politik nur „besser erklären“, hieß es nach den letzten Wahlen scheinbar einsichtig. Man wolle „besser zuhören“, die Menschen „abholen“, so als stünden diese irgendwo dement an einer Bushaltestelle herum. Das ist gerade keine Selbstkritik der Politik. Vielmehr wird das Wahlvolk als ein begriffsstutziges, pubertierendes Kind imaginiert.
Die Entfremdung ist wechselseitig: Das Volk fühlt sich nicht länger repräsentiert, aber die Spitzenpolitik verliert auch tatsächlich die Lust an dieser Repräsentation. Erinnert sei an Bertold Brecht, der einst über schimpfende DDR-Obere spottete, sie sollten sich ein anderes Volk wählen. Selbst noch von dem nobel wirkenden Rückzug des grünen Parteivorstands ging diese Woche die Botschaft aus: Unsere Ideen sind gut, aber die Welt ist noch nicht bereit. Kurzum: Zu der oft bemängelten Politikverdrossenheit des Volkes gesellt sich eine „Volksverdrossenheit“ der Politik.
Der Unmut ist urdemokratisch
Folgt man dem Politikwissenschaftler Philip Manow, so ist dies keine Krise der Demokratie per se, wohl aber eine ihrer repräsentativen Zügelung. Sinn dieser Repräsentation ist es, verschiedenste Interessenlagen parlamentarisch zu bündeln und mit Expertise anzureichern, um damit allzu irrationalen Entscheidungen vorzubeugen. Anders gesagt: Das Parlament weiß es besser. Das stimmt zwar sehr oft, aber wenn die Politik das ihre Wählerinnen und Wähler deutlich spüren lässt, werden diese nervös. Denn zugleich werden dem Wahlvolk heute immer mehr Ansprüche auf Gehör und Teilhabe suggeriert. Umso größer dann die Ohnmacht, wenn die Regierten merken, dass sie leider doch nicht zählen.
Dieser Unmut ist nicht undemokratisch. Im Gegenteil. Er ist urdemokratisch, und man wird ihn dauerhaft nicht unterdrücken können. Daher bieten sich zwei Auswege an: Dem Gefühl politischer Entmächtigung wäre mit echter Teilhabe und diskursivem Empowerment zu begegnen. Bürgerkonferenzen können da nur der allererste Schritt sein. Die Verwahrlosung der politischen Öffentlichkeit ist zu stoppen. Auch müssen undemokratische Systemimperative, etwa aus der Wirtschaft, der Bürokratie oder auch aus Brüssel, zurückgedrängt werden. So erst kann allmählich wieder der Eindruck entstehen, ins Gewicht zu fallen.
Rückfall in den „aufgeklärten Absolutismus“
Der zweite Ausweg lässt gruseln: Die Politik kann offensiv für die Einsicht werben, dass das Volk vor sich selbst geschützt werden muss. Colin Crouch spricht von der „Postdemokratie“: Die demokratische Fassade wird durch Wahlen und Parlamentsdebatten aufrechterhalten. Die Mehrheit der Bürger spielt bloß eine passive Rolle. Die reale Politik wird in der Lobby und in Hinterzimmern gemacht.
Damit aber droht ein Rückfall in den „aufgeklärten Absolutismus“, wie ihn sich einst Kaiser Joseph II. ausmalte. Dem Habsburger verdanken wir das Prinzip einer gut gemeinten „Revolution von oben“. Aber auch das – ganz von Ferne – an Abraham Lincoln erinnernde Motto: „Alles für das Volk, nichts durch das Volk“. Joseph glaubte an die befreiende Kraft der Bürokratie, er führte das System der Hausnummern ein sowie den Leinenzwang für Hunde. Sagen wir es so: Aus demokratietheoretischer Sicht wird vieles davon abhängen, wie lang die Regierenden die Leine lassen werden.