David Lauer ist Philosoph und lehrt an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Philosophie des Geistes- und der Erkenntnistheorie. Er lebt mit seiner Familie in Berlin.
Ende der Telefonzelle
Telefonzellen werden 2025 abgeschafft - und mit ihnen auch die letzten Zeugnisse einer Intimität des Telefonierens, die von der Öffentlichkeit abgeschirmt war, meint David Lauer. © imago / imagebroker
Inseln der Privatheit
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Bis 2025 soll die letzte Telefonzelle aus dem öffentlichen Raum verschwinden. Das mag angemessen sein – besiegelt aber auch die zeittypische Grenzauflösung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit, meint David Lauer.
Das Telefon ist, wie der Brief, ein Medium der Privatheit, sogar der Intimität. Das heißt nicht, dass seine Inhalte nicht geschäftlicher oder politischer Natur sein können. Aber seine Botschaften sind nicht öffentlich. Sie werden nicht ausgestrahlt an ein unbestimmtes, anonymes Publikum, sondern sind Anrufe im buchstäblichen Sinne, gerichtet an eine ganz bestimmte, gezielt ausgewählte Adressatin. Und wie der Brief wurde der Anruf lange Zeit vorrangig im Privaten, in den geschützten Wänden der heimischen Wohnung empfangen.
Abwesende Anwesenheit
Jemanden zu Hause anzurufen, galt daher als Eindringen in die Privatsphäre, das sich nur zu bestimmten Zeiten schickte. Walter Benjamin schildert diesen Umstand in seiner „Berliner Kindheit um 1900“ mit Worten, in denen sich auch die Kinder der achtziger Jahre noch wiederfinden können: „Der Laut, mit dem [der Apparat] zwischen zwei und vier, wenn wieder ein Schulfreund mich zu sprechen wünschte, anschlug“, schreibt Benjamin, „war ein Alarmsignal, das nicht allein die Mittagsruhe meiner Eltern, sondern die weltgeschichtliche Epoche störte, in deren Mitte sie sich ihr ergaben.“
Die Intimität des Telefonierens wird noch dadurch gesteigert, dass der übertragenen Stimme ein Moment leiblicher Gegenwart innewohnt. Die Stimme ist tönender Atem. Emotionale Regungen zwischen Argwohn und Anteilnahme, Zorn und Zärtlichkeit schlagen sich unmittelbar in ihr nieder. Wer telefoniert, lässt zumindest diesen Aspekt der Körperlichkeit des Gesprächspartners an sich heran. Zeugnisse aus der Frühzeit des Telefons schildern diese akustische Anwesenheit des Abwesenden als eine beinahe spiritistische Erfahrung. Dass das Motiv des Telefonanrufs zwischen Liebenden in Filmen, Liedern und Literatur des 20. Jahrhunderts tausendfach ausgestaltet wurde, hat damit zu tun.
Anonymes Zuhause auf Zeit
Die Telefonzelle ist die architektonische Manifestation dieser Intimität des Telefonierens. Die engen Häuschen waren zugig und ungemütlich, doch bildeten sie – durch vier Wände und ein Dach vom umgebenden Stadtraum abgegrenzt – Inseln der akustischen Privatheit mitten im öffentlichen Raum.
Die Intimität, die sie gewährten, konnte sogar größer sein als die des heimischen Apparats, der sich oft an zentraler Stelle in einer geteilten Wohnung befand. Generationen von Jugendlichen haben das, was niemand außer der Person am anderen Ende der Leitung hören sollte, in Telefonzellen ausgesprochen. Ein anonymes Zuhause auf Zeit – kostbar, weil die Münzuhr gnadenlos die Minuten heruntertickte und draußen verärgerte Wartende von einem Fuß auf den anderen traten.
Die wenigen übrig gebliebenen Telefonzellen von heute sind archaische Monumente einer untergegangenen Epoche der Mediennutzung. Schon dass man ihnen irgendwann ihre schützende Außenhülle nahm, war ein Vorbote ihres Untergangs. Der Schritt, sie in naher Zukunft endgültig abzuschaffen, passt in die Zeit.
Zeitgeist tyrannischer Intimität
Die Intimität des Telefonierens ist ein unverständlicher Topos geworden, seit die Welt per Handy und Headset immer, überall und on the move telefoniert. Die Grenze zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen hat sich aufgelöst, wenn das Intimste wie selbstverständlich vor Publikum verhandelt wird, wenn im Bus der Telefonierer zur Linken seine schmutzige Ehewäsche ausbreitet, während am Handy zur Rechten lautstark Geschäftsbeziehungen gepflegt werden.
Wer diese neue Dimension der Tyrannei der Intimität nur schwer erträgt, wird sich vor der zum Abriss freigegebenen Telefonzelle verneigen – als dem stummen Zeugnis einer kultivierteren Zeit.