Kommentar zu Europa

339 Milliarden Euro für den Frieden

04:42 Minuten
Die Hände einer Frau halten einen Strauß aus Blumen in den ukrainischen Farben gelb und blau.
Blumen in gelb und blau: Erinnerung an die im Krieg getöteten ukrainischen Kinder in Lwiw. Der Frieden ist momentan ein Traum. © picture alliance / Photoshot / Anastasiia Smolienko
Ein Kommentar von Stanisław Strasburger · 06.06.2024
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Der Schriftsteller Stanisław Strasburger will Europa neu denken - als Friedensprojekt. Er hat eine eher ungewöhnliche Idee: Eine Riesensumme Geld soll den Krieg in der Ukraine beenden.
„Die Nachkriegszeit ist vorbei, wir leben in der Vorkriegszeit“, sagte der polnische Premierminister Donald Tusk Anfang März. Wenige Wochen später folgte ein Interview für mehrere europäische Zeitungen. Dabei betonte Tusk, dass er niemandem Angst machen wolle.
Es fällt mir schwer, das zu glauben. Tusk vermittelt den Eindruck, als wäre der Krieg unausweichlich. Bewusst oder unbewusst triggert er bei vielen Europäern kollektive Traumata. Zum Beispiel, indem er im selben Interview an ein Foto aus seiner Heimatstadt erinnert, das im Haus seiner Familie hing. Es zeigte lachende Menschen am Strand von Sopot. Aufgenommen wurde es am 31. August 1939.
Wie ernst es Tusk mit der Vorkriegszeit meint, zeigt, dass Warschau bereits vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung ausgibt, doppelt so viel wie das Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Polens Rüstungsindustrie boomt. Internationale Rüstungskonzerne können sich auf lukrative Geschäfte auf Kosten der polnischen Steuerzahler freuen. Und nicht nur sie. Tusk lässt gerade das Baurecht so ändern, dass private Schutzräume und Bunker bis zu einer Größe von 35 Quadratmetern ohne Baugenehmigung errichtet werden dürfen. Die heimische Bauwirtschaft jubelt.

Krieg ist immer ein Geschäft

Krieg ist immer ein Geschäft, das ist nichts Neues. Für wen das Ganze gut ist, fragt schon lange niemand mehr. Ob die BürgerInnen der Ukraine die horrenden Opfer aufbringen wollen, um die von Moskau besetzten Gebiete zurückzuerobern? Wenn das so wäre, müssten die ukrainischen Konsulate ihren Landsmännern eher nicht androhen, ihnen den Service zu verweigern, wenn sie sich nicht zum Wehrdienst melden. Denn gäbe es genügend Freiwillige, wären diese drastischen Maßnahmen nicht nötig.
Doch je größer die Angst, desto schwieriger wird es, diese Entwicklungen infrage zu stellen. Denn Angst ist ein Mittel, das die Machtverhältnisse in einer Demokratie verschiebt. Statt mündige, aktive BürgerInnen zu fördern, versetzt sie die Menschen in einen Zustand akut empfundener Bedrohung. Es wird nach dem Prinzip "Kampf oder Flucht" gehandelt. Für Nachdenken, kritisches Hinterfragen und zielgerichtetes, souveränes Handeln bleibt kaum Raum. Wer es dennoch versucht, wird bestenfalls als nützlicher Idiot abgestempelt.

Europa als guten Ort neu denken

Nun: Wir müssen Europa als guten Ort neu denken. Ich nenne diesen neuen Blick auf Europa #EUtopie.
#EUtopie ist ein Denkanstoß hin zu einer besseren Realität. Ein politischer Realismus, der sich dennoch an den Träumen der BürgerInnen orientiert; im dreihundertsten Jubiläumsjahr von Kant müsste man dies doch in aller Ernsthaftigkeit sagen dürfen: am Traum vom ewigen Frieden.
#EUtopie bedeutet für mich, kurz innezuhalten und aus dem Krisenmodus auszusteigen. Einmal tief durchzuatmen und sich zu fragen, für wen das Ganze gut ist. Wo wollen wir hin? Und welche Wege führen dorthin?

Ein Wettbewerb um das Friedens-Budget

Konkret könnte das so aussehen: Wenn Krieg schon immer ein Geschäft war, dann drehen wir den Spieß doch einfach mal um. Denken wir, die BürgerInnen Europas, die Sache mal wirtschaftlich. Nehmen wir die zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes als Ressource, um Frieden zu schaffen. Für die gesamte EU für das Jahr 2023 ergäbe das die stolze Summe von 339 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Das entspricht etwa dem gesamten Bruttoinlandsprodukt Dänemarks und dem Hundertfachen der jährlichen Bruttobeiträge zum Haushalt der Vereinten Nationen.
Mit diesem „Friedensbudget“ schreiben wir dann einen Wettbewerb aus, wie man das auch bei anderen Großinvestitionen macht, etwa beim Bau von Flughäfen oder Krankenhäusern. Das Geld bieten wir einer natürlichen oder juristischen Person als Preisgeld an, einer Stiftung, einem Unternehmen oder auch einer Regierung, die den Frieden zwischen Moskau und Kiew vermittelt. In maximal einem Jahr.

Kein Krieg ist unausweichlich

Wetten, dass das klappt? Und die aktuell erhöhten Rüstungsausgaben für die Folgejahre könnten wir direkt für den Bau bezahlbarer Wohnungen und weitere längst überfällige Investitionen einplanen. So werden wir, die europäischen BürgerInnen, spüren, dass Europa unser Leben konkret verbessert. Denn kein Krieg ist unausweichlich.

Stanisław Strasburger ist Schriftsteller, Übersetzer und Kulturmanager. Er wurde in Warschau geboren und lebt abwechselnd in Berlin, Warschau und Granada. Seine Schwerpunkte sind Europa, Erinnerung und Mobilität. Kürzlich ist in seiner Übersetzung die literarische Reportage „Mitternacht in Donezk“ erschienen. Sein aktueller Roman „Der Geschichtenhändler“ erschien 2018 auf Deutsch.

Stan Strasburger posiert für ein Foto.
© Simone Falk
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