Feminismus

Das Schweigen der Musliminnen

Eine junge Frau mit Kopftuch hält ein Schild vor ihr Gesicht, auf dem „Equality“ steht.
Sobald muslimisch gelesene Frauen Probleme in ihren Communities ansprechen würden, müssten sie damit rechnen, als Kronzeuginnen für migrantenfeindlichen Aktivismus missbraucht zu werden, sagt Jasamin Ulfat-Seddiqzai. © picture alliance / Westend61 / Xavier Lorenzo
Ein Kommentar von Jasamin Ulfat-Seddiqzai · 08.05.2023
Wenn in der Öffentlichkeit über Islam und Frauenrechte gesprochen wird, geht es meist ums Kopftuch. Viele Musliminnen schweigen dazu. Aber das heißt nicht, dass es keinen muslimischen Feminismus gibt, meint Jasamin Ulfat-Seddiqzai.
Wenn muslimische Frauen für ihre Freiheit kämpfen, wird das im Westen oft missverstanden. Schnell sieht es so aus, als wollten sie sich verwestlichen, sich vom islamischen Erbe befreien. Tatsächlich wenden sich nur die wenigsten komplett ab, viele bleiben gern Teil ihrer Community.
Sich von Idealen der Eltern zu entfernen, heißt nicht, dass man sich automatisch von den Eltern entfernt. Doch dass diese privaten Abnabelungsprozesse politisiert und von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als eine Art kulturelles Überläufertum interpretiert werden, setzt junge Migrant:innen unter Druck. Sobald sie beginnen, sich aus alten Traditionen zu befreien, müssen sie sich häufig auch gegen ihre Instrumentalisierung wehren.
Junge Frauen, die das Kopftuch aus unterschiedlichen Gründen absetzen, erzählen immer wieder überrascht von den Reaktionen ihrer Mitmenschen. Dabei kommen die meisten Kommentare nicht von Muslim:innen. „Das ist aber toll, dass du dich befreit hast“, hören sie dann. Und: „Endlich hast du dich gegen deinen Vater gewehrt.“
Während private Kommentare dieser Art aus Missverständnissen entstehen können, passiert Ähnliches auch auf politischer Ebene. Sobald sich muslimisch gelesene Frauen zu Wort melden und Probleme in ihren Communities ansprechen, müssen sie damit rechnen, als Kronzeuginnen für migrantenfeindlichen Aktivismus missbraucht zu werden.

Die Gefahr, von Mehrheit vereinnahmt zu werden

Die gleichen Gruppen, die sich den lieben langen Tag über das Gendern aufregen, werden zu großen Verfechtern des Feminismus, sobald man diesen migrantisch gelesenen Männern aufzwingen kann. Fremde Männer sieht man gern als Barbaren, gegen die sich Frau zu Recht zur Wehr setzt.
So überlegen sich viele migrantische Frauen ganz genau, ob sie ihre Probleme öffentlich ansprechen. Weil ihr Protest Gefahr läuft, von der Mehrheitsgesellschaft vereinnahmt zu werden, wird der Kampf für die eigene Freiheit schnell zu einer Frage der Loyalität umgedeutet und von dieser überlagert. Wenn die eigene Gruppe so unter Druck steht, will man nicht Nestbeschmutzer sein.
Vergleichbares kann man auch in den USA beobachten. So erklärt der Schwarze Comedian Dave Chappelle bei einem seiner Auftritte, warum es in den USA so wenige MeToo-Vorwürfe Schwarzer Frauen gegen Schwarze Männer gibt. Nicht etwa, weil solche Übergriffe nicht vorkämen, sondern weil Schwarze Frauen den Rassismus der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber Schwarzen Männern mehr fürchten würden als Übergriffe durch Schwarze Männer.
Chappelle deutet an, dass Schwarze Frauen selbst in einer Bedrohungssituation gezwungen sind, sich schützend vor Täter zu stellen. Rassismus macht den feministischen Kampf Schwarzer Frauen doppelt schwer.

Debatten finden verstärkt im Internet statt

Ähnlich geht es muslimisch gelesenen Frauen. Bei den ständigen Diskussionen um Zwangsehen und Kopftüchern geht es nur selten darum, Frauen tatsächlich zu helfen. Also halten sich viele von ihnen mit ihrer feministischen Kritik an der eigenen Gruppe zurück – zumindest in der Öffentlichkeit.
Gerade in den letzten Jahren sind die feministischen Diskussionen jedoch innerhalb migrantischer Communities immer lauter geworden. Auch auf sozialen Plattformen wie reddit und Twitter kann man mittlerweile hitzige Diskussionen verfolgen. Dabei schließen sich Frauen unterschiedlicher sozialer, kultureller und politischer Herkunft zusammen.
Dieser Schulterschluss sorgt dafür, dass sich auch migrantische oder marginalisierte Täter nicht mehr verstecken können. Der Rassismus der Mehrheitsgesellschaft hatte ihnen bisher einen „safe space“ in der eigenen Community geschaffen.
Jetzt, wo sich migrantische, muslimisch gelesene Frauen jedoch immer weniger mit ihrer Kritik verstecken, aber gleichzeitig ihren Platz in den eigenen Communities nicht räumen, sondern weiterhin stolzer Teil der eigenen Gemeinde bleiben, wird es eng: sowohl für die Täter als auch für rassistische Aktivisten, die die Existenz solcher Täter für ihre eigene politische Agenda ausnutzen.

Jasamin Ulfat-Seddiqzai lehrt und forscht an der Universität Duisburg-Essen zu britischer Literatur im 19. Jahrhundert. Ihre Schwerpunkte sind Orientalismus, Stereotypenbildung und Männlichkeitsbilder, insbesondere im Kontext der Anglo-Afghanischen Kriege, über die sie derzeit ihre Dissertation schreibt. Ihre journalistischen Texte behandeln Xenophobie, Frauen im Islam und erschienen in der „taz“ und der „Rheinischen Post“. 

Jasamin Ulfat-Seddiqzai posiert für ein Pressebild.
© privat
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