Kommentar zur Archivierung

Wir müssen lernen, Kunst wegzuwerfen

Eine Mitarbeiterin der Sächsischen Landesbibliothek digitalisiert mit Hilfe eines Scanners ein Buch. Man sieht nur ihre Hände.
Nicht jedes Buch muss digitalisiert werden © picture alliance / dpa / Monika Skolimowska
Ein Kommentar von Martin Lätzel |
Kluges Aufheben und behutsames Entsammeln von kulturellen Schätzen sei in Zeiten der Nachhaltigkeit ethisch und verantwortbar, kommentiert Theologe Martin Lätzel. Denn nicht das gesamte kulturelle Erbe müsse archiviert oder digitalisiert werden.
Im September 1965 gab Pierre Boulez, einer der bedeutendsten Dirigenten und Komponisten des 20. Jahrhunderts, dem SPIEGEL ein denkwürdiges Interview. „Sprengt die Opernhäuser in die Luft”, war darin seine zentrale Forderung. Er hatte sich schon in der Vergangenheit kritisch über Opernhäuser geäußert und sich für ihre Abschaffung oder gar den Abriss ausgesprochen.
Boulez glaubte, dass der Fokus auf die Vergangenheit die Entwicklung neuer Musik verhindert. Natürlich war das provokant. Aber in seinem Statement steckte eine Wahrheit: Zu viel Ressource führt zu Unübersichtlichkeit und scheitert an Grenzen.
Opernhäuser abreißen, Kunst aussortieren, Bücher wegwerfen. Wer mit solchen Forderungen an die Öffentlichkeit tritt, kann sicher sein, dass ein feuilletonistischer Shitstorm aufzieht. Auch mir tut das richtig weh. Und man muss nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. Aber ein kritischer Blick tut not.

Immerwährendes Wachstum ist schädlich

Die kulturelle Infrastruktur und mit ihr das gesamte Kulturverständnis in unserem Land waren und sind Teil des allgemeinen Wachstumsgedankens. Immer geht es um die Zunahme: Mehr Angebote, mehr Material, mehr Daten. Nun haben wir in den vergangenen Jahren schmerzlich wahrnehmen müssen: Immerwährendes Wachstum ist nicht nur unmöglich, sondern für uns Menschen und den Planeten schädlich. Wer dagegen etwas tun möchte, muss das eigene Handeln überdenken. Das gilt leider auch für die Kultur. Was bleibt? Was kann weg?
Für Künstlerinnen und Künstler sind solche Gedanken verständlicherweise eine Qual. Ich verstehe das. Welche Leidenschaft, welches Opfer steckt in jedem Lebenswerk? Wie sehr wünscht man sich, dass alles fortbesteht. Allein: Das wird nicht gehen. Angesichts der Herausforderungen der Nachhaltigkeit schon gar nicht mehr.
Digitalisierung wird gerne als Allheilmittel serviert. Wenn wir nicht alles physisch aufheben können, dann wenigstens in digitaler Form. Was technisch smart daherkommt, hat Tücken im Detail. Die Digitalisierung erfordert erst recht, dass wir uns beschränken. Denn der Aufwand an Ressourcen, immer mehr Langzeitspeicherungen sicherzustellen, ist immens. Wir werden ihn uns nicht leisten können und wir haben nicht genug Platz – weder analog noch digital.

Langzeitarchivierung braucht Grenzen

Keine Generation vor uns hatte technisch die Möglichkeit, allumfassend zu sammeln. Deswegen brauchen wir kluge Sammlungskonzepte und gute Ideen für das Kulturerbe – digital und analog. Dazu gehören Archivgesetze, in denen genau geregelt wird, welche Daten wir wirklich aufheben müssen - und welche nicht.
Digitale Instrumente verführen ja dazu, jede Mail, jede Datei, jede Version abzuspeichern. Für den Alltag okay, für die Langzeitarchivierung müssen wir uns beschränken und brauchen klare Kriterien. Nicht das gesamte kulturelle Erbe muss digitalisiert werden.
Von der Idee, alle Bücher zu digitalisieren, hat man bereits Abstand genommen. Bei Dokumenten oder Bildern reicht es, nach Bedarf Digitalisate anzufertigen und abzuspeichern. Die Aufbewahrung und Überlieferung privater Kunst kann nicht gesetzlich geregelt werden. Hier brauchen wir Ideen und neues Bewusstsein. Aufbewahrte Dokumente und Kunstwerke sollten den Querschnitt eines Lebenswerkes abbilden.
Das Zauberwort heißt „Kuratieren“, also aussuchen und zusammenstellen. Das ist anspruchsvoll. Insgesamt ist ein kluges Aufheben und ein behutsames Entsammeln ethisch und verantwortbar, sodass wesentliche Objekte für zukünftige Generationen erhalten bleiben. In unseren Magazinen steht dann nicht die quantitative Fülle, sondern ein qualitativer Querschnitt, Abbild der Epochen und der Stile. Das ist eine Kunst und ein Kulturbeitrag.

Martin Lätzel ist Theologe und Publizist. Er ist Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel und Honorarprofessor an der Fachhochschule Kiel. Als Autor beschäftigt er sich mit Fragen von Kultur und Digitalisierung.

Mehr aus der Sendung