Identitätspolitik

Identitäres und Authentisches in der Musik

05:05 Minuten
Straßenmusiker in New Orleans, USA, spielt im Hafen Trompete. Im Hintergrund ist ein Ausflugsdampfer zu sehen.
Ausgerechnet die authentischste Musikform der schwarzen Sklaven in den USA, der Blues, wurde zu einem der erfolgreichsten musikalischen Phänomene des gesamten 20. Jahrhunderts. © IMAGO / Jochen Tack
Ein Kommentar von Hartmut Fladt · 21.06.2024
Audio herunterladen
Identitätspolitik spielt als akademische Einordnung und als soziales Gefühl eine wichtige Rolle. In der Musik ist sie als grenzziehendes Mittel aber wirkungslos und geradezu schädlich, meint Musikwissenschaftler der Hartmut Fladt.
Zu allen Zeiten, in allen Genres der Musik wurden und werden Grenzen überschritten: von Komponierenden, von Interpreten, von musikalischen Institutionen, in musikalischen Gattungen. Jede Grenzüberschreitung, solange sie nicht gewaltsam geschieht, ist sinnvoll. Reisen bildet bekanntlich, und sogar Eroberungs-Feldzüge bewirken letztendlich eine erzwungene Art von Kulturaustausch - wobei oft nicht klar ist, ob "Sieger" oder "Besiegte" die längerfristige kulturelle Hegemonie davontragen. Die Römer haben die Griechen militärisch besiegt, wurden aber gleichzeitig von diesen - ihren neuen Sklaven - kulturell dominiert.

Musik überschreitet Grenzen

Ob nun argloser oder arglistiger Reisender: die Erfahrung des "Anderen" schafft auf der einen Seite größeren Reichtum – quantitativ wie in der Qualität des Erlebens und Begreifens, in allen Künsten; andererseits ermöglicht jede neue Erfahrung ebenso einen schärferen und differenzierteren Blick auf sich selbst. Besonders von Tabus umstellt sind Grenzüberschreitungen zwischen solchen Genres, die auch durch soziale Schranken markiert sind. Das gilt für zahlreiche Ausprägungen von Popularmusik, von Volksmusik, Bauernmusik, von Leibeigenen-Musik und Sklavenmusik. Alle diese Musikarten wurden erstmals systematisch erforscht von Béla Bartók, dem ungarischen Komponisten und Ethnomusikologen.

Blues schwarzer Sklaven prägt die Popmusik

Dabei sei auf das paradoxe Faktum verwiesen, dass ausgerechnet die authentischste Musikform der schwarzen Sklaven in den USA, der Blues, zu einem der erfolgreichsten und dauerhaftesten musikalischen Phänomene des gesamten 20. Jahrhunderts wurde. Blues, Rhythm&Blues, Rock, Jazz, Rap, Hip Hop wurden von Teilen der Black Community als „authentisch schwarz“ klassifiziert: die „Authentizität“ wurde, zusammen mit der „Identität“, als Kampfbegriff gegen die „weiße“ gesellschaftliche Dominanz propagiert – was durch das erfahrene geschichtliche unendliche Leid verständlich ist.
Als Garant für Authentizität wird gern auf die „afrikanischen Ursprünge“ verwiesen. Aber: wie viele sehr unterschiedliche, ja widersprüchliche Kulturen und Musikkulturen hat denn dieses „Afrika“? Je nach Herkunft der Sklaven, die oft genug von den eigenen Herrschenden an die britischen und holländischen Händler verkauft wurden, müsste also von erheblich divergierenden musikalischen und performativen Merkmalen ausgegangen werden.
Einer der bedeutendsten schwarzen Musiktheoretiker, Greg Tate, warnte jedoch vor den ja nicht nur „weißen“ identitären Argumentationsmustern und ihren rassistischen Aspekten. Alle die genannten, von der weißen Kultur „geraubten“ Stile haben ihre atemberaubende Lebendigkeit durch konsequente Verschmelzung mit anderen und nicht nur europäisch definierten Musikmerkmalen.

„Identität“ – eine Wunschprojektion?

Bartók schrieb 1942 im US-Exil einen Essay über „Rassenreinheit“ in der Musik. Man denkt: nanu, ausgerechnet Bartók, der Kämpfer gegen bornierten Nationalismus und Faschismus? Er setzte  sich aber nur deshalb mit den Nazi-Theorien auseinander, um sie ad absurdum zu führen, und er resümierte:
„Als das Resultat einer ununterbrochenen gegenseitigen Beeinflussung zwischen der Volksmusik der verschiedenen Völker ergeben sich eine gewaltige Mannigfaltigkeit und ein riesiger Reichtum an Melodien und Melodietypen. Die „rassische Unreinheit“ ist entschieden zuträglich.“

Deutsche Nationalhymne basiert auf kroatischem Volkslied

Und: Rassenreinheit „bedeutet Niedergang“. Oder anders gesagt: wer Identität ausschließlich als trennende Eigenschaft zu anderen verwendet, der verödet – vermutlich nicht nur künstlerisch.
Abschließend, zum Nachdenken: unsere Hymne, das "Lied der Deutschen" hat, von Joseph Haydn geschickt ausgewählt, als Grundlage ein kroatisches Volkslied - "Vjutro rano" - "Früh am Morgen muss ich aufstehen".
So nicht-identitär kann Identität sein.

Hartmut Fladt ist Komponist, Musikwissenschaftler und seit 1981 Professor für Musiktheorie an der Universität der Künste Berlin.

© privat
Mehr über Identitätspolitik