Recht auf Vergessenwerden im Internet
Vergessenwerden im Netz - geht das überhaupt? Unser Autor schlägt stattdessen eine konzertierte „Erinnerungsdiffusion“ vor. © picture alliance / dpa / Karl-Josef Hildenbrand
Mit Fake News verwirren statt Daten löschen
04:56 Minuten
Etlichen Mitmenschen wäre es lieb, wenn bestimmte Dinge nicht über sie im Internet stünden. Falsches können Betroffene aus den Trefferlisten der Suchmaschinen löschen lassen. Doch bringt das was? Arnd Pollmann mit einer rebellischen Gegenstrategie.
Auf der Suche nach einem digitalen Radiergummi: Manchmal gehen peinliche Fotos, Videos und sonstige private Details im Internet „viral“. Dann können sich diese für immer und ewig in die kollektive Erinnerung globaler Server-Netzwerke einbrennen. Wenn man fortan den Namen der anvisierten Person googelt, ergänzt die Suchmaschine automatisch: „Bitch“, „pleite“, „Querdenker“. So werden Bewerbungsgespräche prekär, Tinder-Dates aussichtsloser, dagegen aufdringliche Werbung oder gar Shitstorms umso wahrscheinlicher.
Ohne Pillen keine Amnesie
Juristisch wird ein „Recht auf Vergessenwerden“ diskutiert. Man will die Löschung blamabler oder ökonomisch verwertbarer Daten einklagbar machen. Doch so verständlich das ist: Ein Recht auf Vergessenwerden ist begrifflich Nonsens. Jedem subjektiven Recht muss eine konkrete Pflicht auf der Gegenseite korrespondieren. Und wie könnte es jemals Pflicht sein, Dinge zu vergessen, von denen man weiß? Solange es hierfür keine Pillen gibt, kann man sich zu dieser Amnesie schlicht nicht entscheiden. Und jedes „Sollen impliziert Können“, sagt die Philosophie gern.
Offenbar ist aber mit jenem Recht etwas ganz anderes gemeint: Die Tech-Branche soll derart unliebsame Infos nicht länger verbreiten dürfen. Doch auch hier wird es brenzlig: Manche Auskunft ist schlicht wahr, auch wenn sie unangenehm sein mag. Wieso sollte man ein Recht auf Löschung haben? Und überhaupt: Das Netz vergisst eh nicht. Irgendwo werden diese Daten schon wieder auftauchen.
Digitale Flucht nach vorn
Daher empfiehlt sich eine andere Strategie: die digitale Flucht nach vorn! Zunächst ein Beispiel aus der analogen Welt: Das Bundesverfassungsgericht hat 2004 eine wichtige Entscheidung getroffen. Eine Mutter, die offenbar in den 1970er-Jahren sozialisiert worden war, wollte ihrem Kind beim Einwohnermeldeamt folgende zehn Vornamen geben: Chenekwahow, Tecumseh, Migiskau, Kioma, Ernesto, Inti, Prithibi, Pathar, Chajara, Majim, Henriko und Alessandro.
Wenn die Mutter den Jungen zum Essen gerufen hätte, wäre die Suppe kalt gewesen. Auch das Gericht hatte genug gehört: Mehr als fünf Vornamen dürften es nicht sein. Das Kind selbst werde sich seine vielen Namen nicht merken können, zumal in der richtigen Reihenfolge. Andere Menschen sowieso. Um es in der IT-Sprache fragiler Server zu sagen: Hier droht ein Pufferüberlauf, ein „Buffer Overflow“. Oder haben Sie sich alle zehn Namen gemerkt?
Massenhafter Mummenschanz
Aus diesem Urteil lässt sich eine netzpolitisch rebellische Gegenstrategie ableiten: Nehmen wir uns alle täglich nur etwa fünf Minuten Zeit für eine konzertierte „Erinnerungsdiffusion“. Posten wir Fake News in eigener Sache: „Mein Zweitname ist Kermit, ich bin ein Fan von koreanischem K-Pop, ich liebe Camping und interessiere mich für Origami.“ Man kann sich leicht vorstellen, wie die Cookies und Algorithmen von Amazon, Instagram und Zalando steil gehen und was sie uns am nächsten Tag so alles am rechten Monitorrand anbieten werden. Auch unsere Hater werden verwirrt sein, und die Nachrichtendienste werden staunen, wenn die Suchanfrage lautet: „Wie funktioniert Plastiksprengstoff?“ oder „Wo kann ich dem IS beitreten?“
Gut, vielleicht sollte man diese „Karnevalisierung“ der Daten nicht zu weit treiben. Wichtig ist nur, dass ein massenhafter Mummenschanz eine praktische Lösung für das ersehnte Recht auf Vergessenwerden brächte. Denken Sie an Tecumseh Alessandro: Je chaotischer die Personalien, umso wahrscheinlicher das Vergessen. Haben wir erst einmal alle aufgrund wirrer Desinformationen vollends den Überblick verloren, werden diese Daten, was Mobbing, Kommerz und Geheimdienste angeht, unbrauchbar. Niemand glaubt diesen Personalien mehr. Was aber niemand glaubt, verfängt nicht. Und was nicht hängen bleibt, muss auch nicht aufwendig vergessen werden. Dann gilt wieder: Ach, wie gut, dass niemand weiß ...