Kommentar

Israels Gewalt in Gaza wird in deutschen Medien kaum beachtet

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Am Rande eines Trümmerfeldes warten Kinder in Gaza mit bunten Plastikkanistern auf die Ausgabe von frischem Trinkwasser.
Humanitäre Katastrophe: Lebensmittel und Trinkwasser sind knapp - Kinder warten in Gaza auf frisches Wasser © IMAGO / Xinhua / Rizek Abdeljawad
Kommentar von Hanno Hauenstein |
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Israel und die Hamas bekämpfen sich wieder mit aller Härte. Mutmaßliche Kriegsverbrechen wie die Tötung von Rettungssanitätern in Gaza sind nur die Spitze des Eisbergs. Das wahre Ausmaß des Leids findet in Deutschland zu wenig Beachtung.
Was sich in Gaza abspielt, ist schwer in Worte zu fassen: Über 50.000 Tote, abertausende Verletzte, Heimatlose, Amputierte. Kinder ohne Eltern, ganze Familien ausgelöscht, Stadtteile in Trümmern.
Krankenhäuser, Schulen, UN-Gebäude, Universitäten: vom israelischen Militär zerstört, geräumt, funktionslos gemacht. Auch Journalistinnen und Journalisten werden weiter zur Zielscheibe.

Dramatische Lage in Gaza

Der Hunger in Gaza ist so akut, dass laut UN-Angaben Kinder an Unterernährung sterben. Hilfsorganisationen schlagen Alarm. Das Welternährungsprogramms warnt: Lebensmittelvorräte könnten bald komplett erschöpft sein. 
Auch immer mehr UN-Expertinnen und -Experten nennen, was in Gaza geschieht, einen Völkermord - Amnesty International, Human Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen und ECCHR teilen diese Einschätzung - oder sehen zumindest Anzeichen dafür.
Ein besonders verstörender Vorfall ereignete sich am 23. März, als 14 palästinensische Rettungskräfte sowie ein UN-Mitarbeiter nahe der Stadt Rafah vom israelischen Militär getötet wurden.

Mutmaßlich gezielte Attacke auf Rettungskräfte

Ein Video des Einsatzes vom Handy einer der getöteten Sanitäter zeigt, dass die Einsatzfahrzeuge klar zu erkennen und mit Blaulicht unterwegs waren. Als sie am Einsatzort eintrafen, eröffneten israelische Soldaten das Dauerfeuer auf die Hilfskräfte. Erst eine Woche später wurden die verscharrten Leichen und Fahrzeuge entdeckt. In einem Massengrab von einem Suchtrupp der UNO.
Israels Militär gab zunächst an, man habe auf "Terroristen geschossen". Nach Veröffentlichung des Videos hieß es, man wolle den Vorfall "gründlich untersuchen". 
Damit hier kein falscher Zweifel aufkommt: Was hier beschrieben wird, sind offensichtlich Kriegsverbrechen. Und sie stehen nicht isoliert. Bereits letztes Jahr kam der UN-Menschenrechtsrat zu dem Schluss, dass zahlreiche israelische Angriffe auf die zivile Infrastruktur in Gaza als Kriegsverbrechen zu werten sind.

Kein Ende der Gewalt in Sicht

Die Muster dieser Angriffe zeigen sich zunehmend auch im besetzten Westjordanland. Die Folgen von Luftschlägen auf Flüchtlingslager wie in Jenin oder in Tulkarem konnte ich vor wenigen Wochen selbst mit eigenen Augen sehen. 
Seit Israel das vorläufige Waffenstillstandsabkommen mit der Hamas Mitte März gebrochen hat, hat sich die Intensität der Angriffe auf Gaza deutlich erhöht. Israels Premierminister Netanyahu hat angekündigt, die Militäroperationen auszuweiten, um die verbleibenden israelischen Geiseln aus der Gewalt der Hamas zu befreien und die Hamas zu zerstören.
Damit auch hier kein falscher Zweifel aufkommt: Auch diese Geiselnahmen durch die Hamas sind Kriegsverbrechen. Doch dass es Netanyahu tatsächlich allein um das Wohl der Geiseln geht, ist Expertinnen und Experten zufolge mehr als zweifelhaft.

Israels Ziele sind kritikwürdig

„Große Gebiete“ des Gazastreifens sollten zu „israelischen Sicherheitszonen“ werden, erklärte der israelische Verteidigungsminister Katz. Und Netanyahus rechtsextreme Partner wie Ben-Gvir oder Smotrich sprechen offen von der massenhaften Zwangsumsiedlung beziehungsweise der ethnischen Säuberung aller Palästinenser.
Doch während internationale Medien wie BBC, Guardian oder Al-Jazeera breit berichten, bleiben deutsche Hauptnachrichtensendungen - wie die Tagesschau, Heute Journal oder die Tagesthemen - auffällig still. Wenn sie berichten, dann oft mit passiver Sprache, fragmentarisch oder in unkritischer Berufung auf israelische Militärquellen.

Einseitige Berichterstattung in Deutschland

Diese Art der Berichterstattung ist politisch. Sie ist auch ein Ausdruck von Verdrängung.
Die nachvollziehbare Sorge, zu kritisch über Israels Vorgehen zu berichten, lähmt weite Teile des deutschsprachigen Journalismus. Dabei wäre genau das Gegenteil jetzt wichtig: präzise Berichterstattung - jenseits staatlicher Narrative. Wer heute wissen will, was in Gaza passiert, kommt an internationalen Medien längst nicht mehr vorbei. Oder muss sich eben schwer erträglichen Bildern auf Social Media aussetzen.
Deutschland, das sich seiner historischen Verantwortung rühmt, schaut bei Gaza weitgehend weg. Ja, Deutschland unterstützt Israels Krieg - in genau jenem Moment, wo diese Verantwortung eigentlich am Nötigsten wäre. Auch viele Redaktionen schauen weg.
Man kann zu Israel und zu seiner Regierung stehen, wie man möchte. Aber wer es ernst meint mit Menschenrechten,dem Völkerrecht und mit einer Würde des Lebens, die ja universell gilt, sollte zu Gaza längst nicht mehr schweigen. 

HANNO HAUENSTEIN war bis Oktober 2022 Ressortleiter bei der "Berliner Zeitung" und u.A. verantwortlich für die Bereiche Kunst und politisches Feuilleton. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft zwischen Tel Aviv und Berlin. Als freier Journalist veröffentlichte er unter anderem für "ZEIT Online", "frieze Magazine" und die "taz". 2014 gab er die deutsch-hebräische Kunst- und Literaturzeitschrift "aviv Magazin" heraus.

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