Herculaneum-Papyri

Kommentar: Vergesst die Philosophie nicht

Bild einer verkohlten Papyrusrolle
Eine verkohlte Papyrusrolle aus der Antike: Mit Hilfe von KI können Archäologen diese nun lesen. © imago / Cover-Images
Ein Kommentar von Andrea Roedig |
Mit KI und Scan-Technologie können Schriftrollen entziffert werden, die neue Erkenntnisse über Platon liefern. Ein spektakulärer Erfolg, meint Andrea Roedig. Doch Platons philosophische Fragen sollten wir dabei nicht vergessen.
Vom versunkenen Atlantis wissen wir nur aus Platons Dialogen Timaios und Kritias. In ihnen wird die Insel beschrieben, die im Mittelmeer „vor den Säulen des Herakles“ gelegen habe, bewohnt von einem kriegerischen Volk, das ein angebliches „Ur-Athen“ bezwang, dann aber in einer großen Flut unterging.
Auch wenn die Forschung einhellig davon ausgeht, dass es sich bei der Atlantis-Erzählung um eine Art Gleichnis handelt, ist die Faszination ungebrochen. Myriaden vornehmlich selbst ernannter Forscher versuchten und versuchen seither, Beweise für ein wirkliches Atlantis zu finden – einschließlich der Nazis, die die Insel samt arischer Vorfahren in der Nordsee verorten wollten.
Im Gegensatz zu Atlantis, von dem die Archäologie bislang keine Spuren gefunden hat, existieren die Papyrusrollen aus Herculaneum wirklich, und was in Zusammenarbeit von Archäologie, Altphilologie und Computertechnik hier gerade gelingt, ist tatsächlich spektakulär.

KI macht Schriftzeichen sichtbar

Die schon im 18. Jahrhundert geborgenen Schriftrollen sehen aus wie Kohlestücke, die meisten lassen sich nicht öffnen, ohne sie zu zerstören. Dank digitaler Scans und einer Methode, die sich „virtual unwrapping“, also „virtuelles Auspacken“ nennt, gelingt es nun, die Schriftzeichen sichtbar und mittels KI-Software auch lesbar zu machen.
So erfahren die Forscherinnen und Forscher nach und nach mehr aus dieser einzigen erhaltenen Bibliothek der Antike. Sie erfahren mehr aus Philodemos Geschichte der platonischen Akademie, etwa wer dort studierte, und sie wissen jetzt schon genauer, wo Platon begraben liegt: auf dem Gelände der Akademie, in einem privaten Garten in der Nähe des Museion.

Fakt oder Fiktion?

Was unterscheidet die archäologische Fundbestimmung von der zum großen Teil selbst ernannten Atlantisforschung? In erster Linie, so könnte man sagen: die Suchrichtung. Während die Atlantologen nach Fakten für eine These suchen, erstellt man bei den Herkulaneum-Papyri Thesen auf der Grundlage von Fakten. In gewissen, oft politisch dubiosen Zusammenhängen sind Tatsachenbehauptungen jedenfalls mit Vorsicht zu genießen, hier erfüllt die Aussage, „dass etwas wirklich da gewesen ist“ einen ideologischen Zweck. Wissenschaftliche Archäologie dagegen lässt sich empirisch leiten, aber von der Wirklichkeit auch immer wieder überraschen.
Und was hätte Platon, der große Philosoph der Ideenlehre, zu all dem gesagt? Wie wichtig ist denn das Wissen darum, dass es etwas – zum Beispiel Atlantis – wirklich gegeben hat? „Fakt oder Fiktion“ war keine Frage, die sich die alten Griechen stellten. Platon ging es um Wahrheit. Und da wird es kompliziert. Platonische Dialoge legen nie etwas fest, sie gehen in einem fort, drehen und wenden, kommen zu keinem Stillstand und erzählen eben auch von Atlantis. Ob etwas wahr ist, erschließt sich bei Platon nicht über empirisches Wissen, sondern über eine bestimmte Methode des Denkens und Nachweisens.

Geistes- und Naturwissenschaften als Team

Ja, die technischen Möglichkeiten, historische Relikte zu bergen und zu bestimmen, sind spektakulär. Wir brauchen gut belegte Fakten und das Zusammenspiel von Geistes- und Naturwissenschaften. Heute mehr denn je.
Aber eine gute Scheibe Platonismus können wir auch behalten, denn die hilft sowohl gegen Atlantis-Behaupter als auch gegen krassen Szientismus. „Wo liegt das Grab Platons?“ lautet die archäologische Frage. Die philosophische aber heißt immer noch: „Was bedeutet es zu sterben?“
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