Kommentar

Wir brauchen mehr echten Liberalismus

04:23 Minuten
Publikum sitzt vor einer Bühne, auf der das Logo der FDP steht.
Die FDP verhindert das Tempolimit und versteift sich auf die Schuldenbremse. Ist das liberal? © picture alliance / dpa / Hannes P Albert
Ein Kommentar von Christian Schüle |
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Querdenker, „Woke“, die FDP: Sie alle halten sich für „liberal“ – und sind es alle nicht. Denn der wahre, klassische Liberalismus steht für echte Toleranz. Davon brauchen wir mehr denn je.
Ich hielt mich immer für einen Liberalen. Selbstbestimmung, Toleranz und Eigenverantwortung, das war mir wichtig. Und jetzt blicke ich auf die Gesellschaft der Gegenwart und bin verwirrt, erstaunt und manchmal ratlos, was heute alles als „liberal“ bezeichnet wird und ob mein Verständnis von „liberal“ da überhaupt noch einen Platz hat.
Die „Woken“ reklamieren Meinungsfreiheit für sich, wollen dieselbe Meinungsfreiheit für andere aber einschränken, wenn deren Meinung ihnen nicht passt. Querdenkende berufen sich aufs Liberale und die Freiheit, um grundsätzlich den Staat und seine Gesetzgebung anzugreifen, wenn sie ihre eigene Freiheit nicht mehr absolut und ohne Rücksicht auf Verluste ausleben können. Konzernkapitalisten wollen im Liberalismus den Freifahrtschein zur Befreiung von allen Regulierungen sehen.
Die FDP will neuerdings das Liberale ausgerechnet darin erkennen, kostenlos in Innenstädten zu parken, ein Tempolimit zu verhindern und sich auf die Schuldenbremse zu versteifen – schiere Überlebenstaktik einer strauchelnden Partei.

Neue Linke: Konformität statt Diversität

Und dann sind da noch die sogenannten Neuen Linken, die man in den USA „Liberals“ nennt. Sie sind die Wachsamen und Achtsamen, die unterdrückte Minderheiten befreien wollen. Sie beschwören Vielfalt, aber nur jene, die sie für gut halten. Sie reden von Diversität, wollen letztlich aber Konformität. Sie halten sich für progressiv, denken aber autoritär. Und im Namen einer höheren Moral grenzen sie die aus, denen sie Ausgrenzung vorhalten. Was ist daran liberal?
Kein Liberaler würde Demokratie ohne Rechtsstaat, Regel und Gesetz denken. Und kein klassischer Liberaler würde Markt ohne Ethik und staatlichen Rahmen verstehen.

Eine Tyrannei des Intimen

Der klassische Liberalismus will etwas ganz anderes. Er will Möglichkeitsräume öffnen. Er will zulassen. Er strebt nach permanenter Aushandlung gleichwertiger Interessen. Und er sieht eine klare Trennung zwischen privat und öffentlich vor.
Seit Jahren dominiert eine Tyrannei des Intimen den öffentlichen Diskurs: subjektive Befindlichkeiten und persönliche Betroffenheit statt tiefgründiger Argumentation. Aber niemand, der wirklich liberal denkt, würde sich hinreißen lassen, Auftritte von Wissenschaftlern, Künstlern und Politikern zu verhindern, Sprache zu zensieren, gefälliges Verhalten vorzuschreiben, Mitbürger zu maßregeln und Andersgesinnte zu denunzieren. Wer wahrhaft liberal ist, würde Genderpolitik zum Beispiel als eine Sichtweise unter vielen respektieren und zugleich das traditionelle Konzept biologischer Zweigeschlechtlichkeit als ebenso legitim gelten lassen.

Toleranz im eigentlichen Sinne

Klassischer Liberalismus ist weder marktradikaler Turbokapitalismus noch herzenskalter Lobbyismus für Besserverdienende. Er vertraut in die Fähigkeiten der Menschen, Widersprüche zuzulassen, Pluralität zu moderieren und alle Lebensentwürfe als gleichberechtigt anzuerkennen. Der Liberale will ja die tatsächliche, nicht nur ideologisch geframte Diversität: nämlich Unterschiede jeglicher Art als Gewinn betrachten, darunter selbstverständlich auch rechtskonservative Meinungen und womöglich sektiererische Positionen. Vor allem aber heißt klassischer Liberalismus Toleranz im eigentlichen Sinne: Haltungen akzeptieren, gar wertschätzen zu können, gerade weil man sie nicht teilt – solange sie das Grundgesetz achten.
In einer Zeit zunehmender Polarisierung und Radikalität halte ich es für dringend geboten, den klassischen Liberalismus zu rehabilitieren. Warum? Weil allerorten der missionarische Eifer zunimmt. Weil immer mehr Länder ins Autoritäre driften. Weil wir künftig in superdiversen Gesellschaften leben werden und Ausgleich und Aushandlung widersprüchlicher Interessen beherrschen müssen. Und weil wir die Resilienz lernen müssen, Ambivalenz zu ertragen.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat. Ein Phantomschmerz“ sowie „In der Kampfzone“.

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